# taz.de -- Piraten und Medienkompetenz: Clash of Codes | |
> Die Piraten wollen andere Politiker sein. Der Medienmaschine können sie | |
> sich aber nur schwer widersetzen. Das produziert Skandale. Wer gewinnt? | |
Bild: Die bekennende „Internet-Exhibitionistin“ Julia Schramm beim Parteita… | |
Das alles sei ihm einfach nur so rausgerutscht. Eine Dummheit, ärgerlich, | |
schmerzhaft in ihrer Wirkung, aber schlicht der eigenen Unerfahrenheit | |
geschuldet. Während eines Interviews mit dem Spiegel gab Martin Delius, | |
Berliner Abgeordneter der Piratenpartei, kürzlich zu Protokoll, das rasante | |
Wachstum seiner Partei sei nur noch mit dem der NSDAP zwischen 1928 und | |
1933 vergleichbar. | |
Schon kurz nach dem Gespräch ist er selbst schockiert über diesen | |
Vergleich. Und macht den nächsten Fehler. Das eigene Versäumnis, so seine | |
Devise, legt man am Besten gleich selbst offen. Der übliche Mechanismus der | |
Kommunikationskontrolle (man beseitigt ein unliebsames Zitat durch | |
Autorisierungsverweigerung) ist ihm fremd, widerstrebt ihm. Also twittert | |
er das Gesagte, um eine Art Gegenöffentlichkeit zu schaffen, seine Leute | |
vorzubereiten – wohlgemerkt, noch bevor überhaupt eine Öffentlichkeit | |
entstanden ist. | |
Erst dann meldet er sich wieder beim Spiegel, versucht, immer noch entsetzt | |
über den eigenen verbalen Fehlgriff, den seltsam giftig ausstrahlenden Satz | |
doch noch irgendwie zu entsorgen, einzuhegen. Ohne Erfolg. | |
Dann explodiert der Skandal, der eigentlich keiner ist, als Vorabmeldung | |
auf Spiegel Online. Es folgt ein Shitstorm, schließlich das übliche | |
Aufregungsritual der politischen Konkurrenz in den klassischen | |
Massenmedien. Und Martin Delius, der sich seit Jahren gegen | |
Rechtsextremismus engagiert, zieht seine Kandidatur für den Posten des | |
politischen Geschäftsführers der Partei zurück, publiziert eine | |
ausführliche Entschuldigung. | |
## Transparenz gegen Kontrolle | |
Man könnte damit all dies eigentlich auf sich beruhen lassen. Aber die | |
Geschichte ist doch in allgemeiner Hinsicht aufschlussreich. Sie zeigt | |
einen Clash of Codes, ein Aufeinanderprallen unterschiedlicher | |
Kommunikationslogiken, Weltanschauungen, Interessen. Transparenz steht hier | |
gegen Kontrolle, die Fehlertoleranz gegen eine professionelle | |
Imagekosmetik, die in anderen Parteien längst üblich ist. Und faktisch fand | |
und findet, auch das mag hineinspielen, netzintern eine Banalisierung des | |
Bösen statt, die die klassische massenmediale Öffentlichkeit verstören | |
muss. | |
Man lacht im Netz ziemlich oft und gern über Nazis und Adolf Hitler. | |
Satirisch unterlegte Szenen aus dem Film „Der Untergang“ sind auf YouTube | |
und anderen Plattformen zum Hit geworden. Und der NS-Vergleich steht | |
pauschal für ein Unbehagen, manchmal auch nur für eine irgendwie ärgerlich | |
wirkende Pedanterie („Rechtschreib-Nazi“, „Grammatik-Nazi“) – eine | |
Tatsache, die den Autor Mike Godwin bereits 1990 zur ironisch gemeinten | |
Formulierung von Godwin’s Law inspirierte, einem Gesetz, das im Kern | |
besagt: Irgendwann kommt in jeder Netzdiskussion gewiss der NS-Vergleich. | |
## Kuriose Normverletzungen | |
Aber der Clash of Codes greift tiefer, geht weit über ein unterschiedlich | |
ausgebildetes Tabuempfinden hinaus. Zentral ist, dass die Piraten den | |
Amateur wirklich ernst nehmen, zulassen, fördern, die Kontrollideologie der | |
etablierten Parteien ablehnen, Nahbarkeit wünschen, Transparenz verlangen. | |
Die Folge: Sie programmieren in einer auf private Peinlichkeiten und | |
kuriose Normverletzungen starrenden Mediengesellschaft den Skandal, die | |
boulevardeske Erregung. | |
Die authentische Selbstentblößung Einzelner lässt sich wunderbar verwerten | |
und in das Muster herablassender Freakgeschichten einfügen: „Guck mal! Wie | |
seltsam! Wie merkwürdig!“ | |
Bei der allmählichen Verwandlung der Piratenidee in ein Medienspektakel | |
hilft es selbstverständlich enorm, dass manche von ihnen nur Latzhosen und | |
Palästinensertuch tragen und ihr Stammtischgegröle zur Frauenquote | |
(„Tittenbonus“) twittern. | |
Es hilft, dass manche Piratinnen weltöffentlich über | |
Menstruationsbeschwerden, den ersten Kuss und den Moment der Verlobung | |
schreiben, streng ihrem internen Code der öffentlichen Privatheit folgen, | |
der sich nur allzu leicht in eine medial erwünschte Präsentation übersetzen | |
lässt. Und es hilft ganz gewiss, dass manche gezielt den Schemabruch | |
einsetzen, die Antiinszenierung inszenieren – und sich die Krawatte nicht | |
um den Hals, sondern um den Arm binden, in Sandalen in die Talkshow | |
marschieren oder sich im Netz präsentieren, wie sie gerade eine Linie | |
weißes Pulver (Salz, versteht sich) schniefen. | |
## Bedauerliche Einzelfälle | |
Wieder andere bedienen die mediale Verwertungslogik deutlich hilfloser, | |
ohne das dringend benötigte Minimum an Offlinekompetenz. Sie produzieren | |
kleinere und größere Kommunikationsdesaster in Serie, die inzwischen ein | |
anonym agierender Blogger unter der Überschrift [1][„Bedauerliche | |
Einzelfälle“] dokumentiert. | |
Hier entdeckt man sexistische oder sonstige Fehlleistungen in gehäufter | |
Form und bemerkt eine allgemein menschliche Medialitätsvergessenheit, ein | |
mangelndes Gespür für extreme, prinzipiell unbeherrschbare | |
Kommunikationseffekte unter den modernen Medienbedingungen. | |
Niemand, eben auch kein mit seinem Smartphone verwachsener | |
Technik-Aficionado, kein nervöser Nerd kann sich vorstellen, was mit seinen | |
Daten, seinen Tweets, seinen Postings in Zukunft geschieht, und ist auf die | |
beschämenden Kombinationen gefasst, in denen sie eines Tages eventuell zu | |
ihm zurückkehren, sich unauflösbar mit dem eigenen Ich verbinden. | |
## Bekenntnis der eigenen Ahnungslosigkeit | |
Das macht selbstverständlich Angst. Und so reagieren einzelne Piraten | |
erkennbar eingeschüchtert, verwandeln sich in Taktiker, Antwortverweigerer | |
und seltsam ungreifbar wirkende Systemadministratoren, die einen Kommentar | |
nur dann abgeben wollen, wenn die Partei einen aber auch wirklich absolut | |
glasklaren Beschluss zum Thema gefasst hat. | |
Sie flüchten sich in das Bekenntnis der eigenen Ahnungslosigkeit und | |
entziehen sich, ängstlich, zittrig, zwischen unterschiedlichen Codes | |
schwankend, den großen Fragen, die da lauten: Wie viel Andersartigkeit | |
erträgt die Mediengesellschaft? Kann man eine tatsächlich neue, eine | |
radikal basisdemokratische Matrix der Kommunikation etablieren? Oder wird | |
das Plädoyer für die andere Form von den konkreten, gerade aktuellen | |
Augenblicksreizen (den hässlichen Sandalen, den chauvinistischen Tweets, | |
den blödsinnigen NS-Vergleichen) überblendet? | |
Kann sich die Metabotschaft der technisch gestützten Nahbarkeit und | |
Berührbarkeit durchsetzen? Oder werden die Piraten den Weg der medialen | |
Selbstverbrennung gehen, zum eigenen Schaden auf ihren internen Codes | |
bestehen, sich von den Borderlinern in den eigenen Reihen treiben und durch | |
Skandale fixieren lassen? | |
## Charlotte-Roche-Imitation | |
Vielleicht wird man diese Fragen bald entscheiden können. Und vielleicht | |
hat der Tag der Entscheidung ein konkretes Datum. Es könnte irgendwann nach | |
dem 17. September 2012 liegen. An 17. September erscheint das Buch der | |
Berliner Piratin Julia Schramm, Mitglied des Bundesvorstandes. Es trägt den | |
Titel „Klick mich! Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin“ und muss | |
schon wegen des Vorschusses, den der Verlag dafür ausgegeben hat, unbedingt | |
ein Erfolg werden. | |
Man spricht parteiintern von einer Charlotte-Roche-Imitation des | |
Netzzeitalters, will sich aber damit nicht zitieren lassen. Nun schreibt | |
Julia Schramm also auch mit Blick auf das Reizkorsett der parteiexternen | |
Medienwelt ein paar Sexgeschichten nieder, erzählt ein wenig von Marihuana, | |
ein bisschen über Adolf Hitler und das geschichtsvergessene Gelächter der | |
Netzgemeinde. Aber eigentlich, so sagt sie, geht es ihr um etwas anderes, | |
das sich wiederum nur formelhaft ausdrücken lässt. Sie nennt es die | |
Demokratisierung des Publizierens. Das Ende der Hierarchie. Die neue Matrix | |
der Kommunikation. | |
Aber wie dafür werben, wenn die Form selbst zur Botschaft werden soll und | |
die eigene Person eigentlich nicht zählt? Wie sprechen, wenn man die Regeln | |
brechen will, die man doch auch bedient und vielleicht bedienen muss? Wie | |
schreiben, wenn man die Gier der Mediengesellschaft verstanden hat, aber | |
dann doch auch wirklich noch ein paar andere, ungleich wichtigere Inhalte | |
loswerden will? | |
Lösen lässt sich ein solches Dilemma kaum. Man muss daher kein Prophet | |
sein, um den nächsten Skandal vorherzusagen. Kommen wird er, das ist | |
gewiss. | |
23 Jun 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://einzelfaelle.tumblr.com/ | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pörksen | |
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