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# taz.de -- Montagsinterview mit Henning Vierck: „Im Paradies gibt es keine T…
> Der Gärtner Henning Vierck ist der Gründer des Comenius-Gartens in
> Neukölln. Durch seine Arbeit im Grünen wird der 64-jährige Vierck seinem
> Vorbild immer ähnlicher.
Bild: „Der Garten ist ein befriedeter Raum“: Henning Vierck in seinem Parad…
taz: Herr Vierck, wer den Comenius-Garten betritt, merkt schnell, dass
dieser Garten kein gewöhnlicher ist: Hier die streng diagonal gepflanzten
Blumen, dort verwilderte Wiesen. Dann ein Becken aus grünem Granit, akkurat
geschnittener Rasen und am Eingang dieses seltsame Podest. Hat das alles
eine Bedeutung?
Henning Vierck: Der Garten besteht aus einem Rundgang, einem Lebensweg.
Und was ist was?
Jeder Teil des Gartens steht für einen Lebensabschnitt, begonnen vor der
Geburt bis zum Tod und darüber hinaus. Die diagonalen Blumenreihen etwa
sind aus Veilchen gebildet, sie stehen speziell für die zweite Klasse der
Grundschulzeit. Das Podest am Eingang steht für die Universität. Auch die
Menschen, die hier im Viertel leben – und ich lebe schon seit über 20
Jahren hier –, verbinden die Stationen des Gartens mit ihren Erlebnissen.
Der Garten lädt sich für jeden mit einer Geschichte auf.
Woher kommt die Idee für diese Gestaltung?
Die Idee zu dem Garten hatte ich selbst. Als Wissenschaftshistoriker habe
ich mich mit Comenius, einem Klassiker der Pädagogik, beschäftigt. Ich
wollte seine Vorstellung von der Welt visualisieren. Er hat sich die Welt
nicht, wie es in seiner Zeit modern wurde, als Maschine vorgestellt –
sondern als Garten. Das wollte ich in der Stadt realisieren. Und das ist
mir gelungen: hier im Böhmischen Dorf, mitten in Neukölln.
Wer war Comenius?
Comenius lebte von 1592 bis 1670, also in der Zeit des Dreißigjährigen
Krieges. Er war Tscheche und musste hierher fliehen, weil nach der Schlacht
am Weißen Berg seine Religionsgemeinschaft, die Böhmischen Brüder, nicht
mehr geduldet war.
Was war sein pädagogisches Konzept?
Für Comenius ist Schule Sozialreform. Er hat eine sechsklassige Schule
gefordert, in die alle Kinder eines Ortes gehen – Mädchen und Jungen, Arm
und Reich, weniger Begabte und Hochbegabte. Zu den Hochbegabten gibt es
einen schönen Satz von ihm: „Es ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit,
einen Zwölfjährigen zum Professor zu machen.“ Ihm geht es um die soziale
Kompetenz. Deswegen ist es notwendig, dass alle Kinder gemeinsam zur Schule
gehen und sich spielerisch auf ihr Leben vorbereiten. Das ist übrigens
etwas, was für Neukölln ganz dramatisch an Bedeutung gewinnt. Plötzlich
tauchen hier die sogenannten bildungsnahen Schichten auf und mieten
kostengünstige Wohnungen. Aber die Kinder, die diese Menschen dann
bekommen, gehen in anderen Bezirken zur Schule. Das ist ganz und gar gegen
Comenius: Damit wird soziale Kompetenz, die Kinder qua Geburt haben,
zerstört.
Die Kinder kommen zu Workshops und Seminaren in den Garten. Wie lernen sie
hier?
Der Mensch möchte aus eigenem Antrieb lernen. Deswegen forschen die Kinder
hier zusammen mit Wissenschaftlern, die am Max-Planck-Institut für
Wissenschaftsgeschichte arbeiten. Dieses Forschen auf Augenhöhe bedeutet,
dass sowohl die neugierigen Fragen der Kinder als auch die neugierigen
Fragen der Wissenschaftler Antworten finden. Würde Comenius heute Schule
machen, wäre Schule keine Lehranstalt, sondern eine Forschungseinrichtung.
Wie reagieren die Menschen auf Sie und den Garten?
Es passiert immer wieder, dass Lehrer zu mir kommen und sagen: „Was habt
ihr mit diesem Kind gemacht? Das hat immer nur mit trüben Augen hinten in
der letzten Bank gesessen, und auf einmal sprühen Geistesblitze.“ Aber wir
haben gar nichts gemacht. Lernen geht nur durch eigenen Antrieb. Das Kind
hat durch den befriedeten Raum die Möglichkeit bekommen, seine Fragen zu
beantworten. Hier wird es nicht ständig geschubst – dies musst du wissen,
das musst du wissen –, sondern es probiert selbst. Die größte Mitgift, die
der Schöpfer uns nach Comenius’ Vorstellung gegeben hat, ist die Freiheit,
das Ausprobieren, das Spielen. Schola ludus, sagt er: Schule als Spiel.
Wie viele Besucher kommen zu Ihnen?
Tausend Kinder kennen den Garten bestimmt. Im letzten Jahr hatten wir im
Garten rund 1.000 Äpfel und Birnen. Mit anderen Worten: Jedes Kind hier hat
einen frisch gepflückten Apfel bekommen, eine Birne oder eben eine Hand
voll Kirschen fürs Leben.
Geht das immer gut, dass hier so viel los ist?
In den ersten Jahren wurde unglaublich viel zerstört. Da sind nicht nur
Äste abgebrochen worden, sondern auch Bäume kaputtgegangen. Inzwischen ist
es so, dass die Kinder den Garten als den ihrigen betrachten und mit ihm
viel pfleglicher umgehen als früher – und auch pfleglicher als die
Touristen, die kommen. Solange der Garten den Kindern gehört, bleibt er
erhalten. Das Böhmische Dorf und damit auch der Garten sind etwas, das man
vorzeigen kann. Jeder, der Neukölln gut kennt, kennt den Comenius-Garten.
Er ist ein Kleinod.
Es gibt einen Zaun um den Garten.
Für Erwachsene ist der Garten erst mal ein verschlossener Ort, man kommt
ohne weiteres nicht hinein. Für Kinder ist das anders, die können sich den
Garten zur Not kletternd erobern. Erwachsene müssen fragen, wie man
reinkommt. Jeder, der den Garten betritt, übernimmt dadurch Verantwortung
für diesen Ort.
Und die wird tatsächlich übernommen?
Der Garten ist ein Raum, in dem Toleranz möglich ist. Nicht in dem Sinne,
dass man alles machen darf, wenn es den anderen nicht stört –, sondern
Toleranz so verstanden, dass man etwas von seiner Position zurücknimmt, um
den anderen teilhaben zu lassen. Das ist ein Toleranzbegriff, der
eigentlich nur in befriedeten Räumen möglich ist.
Gibt es Regeln?
Ja, aber die verändern sich stetig, wie sich auch der Garten verändert.
Gerade für die Kinder ist das wichtig zu lernen. Es gibt eine Regel, die
leider immer wieder gebrochen wird: Kinder kommen mit Tüten für die Früchte
in den Garten. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sagen, dass es
im Paradies keine Tüten gibt. Da lebt man von der Hand in den Mund.
Wie sind Sie auf Comenius gestoßen?
Ich habe Politologie studiert, und ausgerechnet ein erzkonservativer
Professor hat mich als jungen 68er darauf aufmerksam gemacht, dass es das
Konzept der Basisdemokratie schon lange gibt. In Böhmen gab es etwa die
Brüder und Schwestern des Gesetzes Christi, zu denen Comenius gehörte, die
basisdemokratische Vorstellungen hatten. Seit ich das weiß, beschäftige ich
mich damit.
Was interessiert Sie besonders?
Comenius hat ein spannendes Werk geschrieben, das leider verloren gegangen
war und erst 1935 wiederentdeckt wurde. Das hat den schönen Titel
„Allgemeine Beratung zur Verbesserung der menschlichen Dinge“. Er überlegt
darin, wie der Mensch ohne Herrscher auskommt, und zwar im Konsens – alle
stimmen mit allen überein. Das ist ein sehr kompliziertes Verfahren, das
ich mit den Menschen, die in den Garten kommen, nachvollziehe. Vor allem
mit den migrantischen Gemeinschaften, die hier leben, konnte ich das
lernen. Die sind sehr empathisch.
Wie meinen Sie das?
Für Comenius werden Konflikte durch Denken, Sprechen und Handeln gelöst.
Wenn man ein Problem erkennt, kann man es erst mal durchdenken, kommt damit
aber noch nicht zu einer Lösung. Man muss dieses Problem auch durch jemand
anderen erkennen, nur dann kann man zu einer Lösung kommen – und dazu ist
das Gespräch notwendig. Im Garten kann man Lösungen für dramatische
Situationen zum Glück vergleichsweise einfach finden, allerdings nur
vermittelt: Man kann zum Beispiel einen Apfel pflücken. Der Garten ist dazu
da, Austausch zu unterstützen. Er ist erst mal schlicht ein befriedeter
Raum, für Kinder ist er ein Schutzraum. Wenn es irgendwo Not gibt, kommen
die Kinder zu mir und bitten um Hilfe. Es ist ein Garten mit vielen
Früchten. Jeder, der hier als Kind viel Zeit verbracht hat, läuft später
mit einer Hand voll Kirschen durch sein Leben.
Haben Sie auch Kirschen dabei?
Für mich kommt zu der politologischen Frage, wie Menschen sich selbst ohne
Herrscher regieren können, noch eine kindliche Erinnerung dazu. Ich bin in
einer unglaublich heilen Welt auf einem kleinen Hügel aufgewachsen, umgeben
von mehreren Seen, mit ein paar Freunden, Geschwistern, Enten, Schweinen,
Vögeln und Pflanzen. Nach der Schule habe ich studiert, danach noch kurz an
der Universität gearbeitet, dann kam ich nach Berlin. Mir fehlte diese
Kindheit. Ich denke, es ist mir gelungen, sie in diesen 7.000 Quadratmetern
wieder zurückzuholen.
Ist der Garten Ihr Lebenswerk?
Inzwischen komme ich dazu, dass ich mich von außen angucke, weil Lebenszeit
begrenzt ist. Ich bemühe mich jetzt, den Garten der nächsten Generation zu
übergeben. Insofern ist er ganz und gar ein Lebenswerk – was auch der
Vorstellung von Comenius entspricht. Er hat einen ausgeprägten Werkbegriff.
Sie beantworten alles mit Comenius. Sehen Sie sich als eine Art Nachfolger?
Ich versuche, Comenius zu verstehen und in jeder Situation – in schönen, in
schwierigen, in gefährlichen Situationen – Antworten zu finden, wie sie
Comenius geben würde. Das heißt schon, dass ich ihm möglicherweise immer
ähnlicher werde und damit Teile meiner Persönlichkeit, die eigentlich zu
mir gehören, verlasse. Das ist eigentlich ein gefährliches Unternehmen.
Aber ich habe das Glück, dass ich mich mit einem Menschen beschäftige,
dessen Denken meinem sehr nahe ist. Ich finde in seinem Denken viel wieder,
was ich auch unabhängig von ihm gedacht habe.
Beunruhigt Sie das nie?
Im Alter ist Comenius oft sehr streng, beinahe starrsinnig geworden. Er hat
aus unserer Sicht verzweifelt an die Verbesserung der menschlichen Dinge
gedacht und seine Umgebung geradezu verpflichtet, das fortzusetzen, was er
begonnen hat. Ich muss aufpassen, dass mir das nicht auch passiert. Aber
ich fühle mich schon als Henning Vierck. Die Nächsten sind meine Familien,
meine Freunde, und dann irgendwann kommt Comenius. Wobei seine jüngste
Enkelin witzigerweise Lilly hieß. Eine meiner Enkelinnen auch.
War das Zufall?
Absolut.
Lernen Sie selbst auch hier?
Comenius sagt: Der größte Schüler bin ich selbst. Ich hoffe, dass ich noch
Zeit genug haben werde, aufzuschreiben, was ich hier gelernt habe. Ich war
sehr neugierig, wie ein friedfertiges Leben möglich ist, ohne in absoluter
Ruhe zu leben – also ein friedfertiges Leben mit quirliger Lebendigkeit.
Ich glaube jetzt, dass dieses Wechselverhältnis zwischen innerem und
äußerem Diskurs ein solches Leben ermöglicht. Genau das haben wir in den
letzten 20 Jahren ausprobiert. Wenn ich den Garten der nächsten Generation
übergebe, hoffe ich, dass ich noch genügend Zeit habe, das zu formulieren.
Gärtnern Sie auch?
Ohne die Verantwortung für das Ganze ist der Garten nicht zu realisieren.
Das heißt, ich bin für alles verantwortlich – so wie alle anderen im
Übrigen auch. Gärtnern gehört dazu, das entspricht dem Werkbegriff von
Comenius. Eine der wichtigsten Aufgaben im Garten war von Anfang an das
Einsammeln von Glasscherben, Plastiktüten, irgendwelchen
Hinterlassenschaften. Alle, die den Garten in den ersten Jahren betreten
haben, waren entsetzt, dass es keine Mülleimer gibt. Mittlerweile bleibt
nur noch wenig Müll liegen. Das Einsammeln von Unrat ist aber immer noch
eine der wichtigsten Aufgaben.
Wie lange wollen Sie hier noch arbeiten?
Ich wollte eigentlich ganz normal mit 65 aufhören. Aber ich habe mit meiner
Familie gesprochen, und die hat nichts dagegen, wenn ich noch weitermache.
Was bedeutet der Garten für die Stadt?
Man befindet sich mitten auf dem Land in einer Metropole. Urbanität
bedeutet, dass man auf engem Raum miteinander auskommen muss. Das ist eine
Familiarität, die es ermöglicht, mit allen Konflikten in der Welt
umzugehen. In Neukölln und an anderen Orten in Berlin, in Metropolen
generell gibt es viele Menschen, die im Exil sind. Sämtliche Konflikte
dieser Welt sind in Metropolen präsent. Aber durch unterschiedliche
Kulturen und Religionsgemeinschaften auf engem Raum sind auch viele
Lösungsmöglichkeiten vorhanden. Es ist eine enorme Chance, die solch eine
Stadt bietet, wenn sie ländliche Räume, Gärten zulässt. Migrantische
Gemeinschaften gibt es viele, das ist kultureller Reichtum im
wirtschaftlich armen Nord-Neukölln. Daraus können unglaublich schöne Sachen
entstehen.
Fühlen Sie sich als etwas Besonderes?
Erst mal fühle ich, dass ich in meinem Garten bin, der aber auch allen
anderen gehört. Ich fühle mich als Teil der Gesellschaft, und zwar als der
glückliche Teil. Und ab und zu kann ich etwas davon abgeben.
24 Jun 2012
## AUTOREN
Frauke Böger
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