# taz.de -- Marathonlaufen ohne Publikum: Dicke Beine, schlenkernder Gang | |
> In einem Hamburger Naturschutzgebiet hat unser Autor Männer getroffen, | |
> die mehrmals die Woche einen Marathon laufen. Und hat bis zum Schluss | |
> durchgehalten. | |
Bild: "Am Ende werde ich nicht mehr wissen, wie viel ich noch laufen muss, wenn… | |
HAMBURG taz | Was es hier alles nicht gibt: Startschuss, Zuschauer, Erster | |
Bürgermeister, Musik, Siegprämien, den NDR, Kenianer, Hafen, Plakate, | |
Siegerehrung, Verpflegungsstände, Rollstuhlfahrer, Sanitätszelte, Spanier, | |
Tempomacher, Helikopter, Medaillen, Dänen, Leute, die frühstücken und den | |
Läufern zuprosten. | |
Die Krähe da auf dem weißen Weg ist, weil der Weg so weiß ist, verdammt | |
schwarz. Es ist Freitagnachmittag, kurz nach halb fünf, im | |
Naturschutzgebiet Teichwiesen, Hamburg-Volksdorf. „Schwierig zu finden“, | |
sagt der Mann, den ich an der U-Bahnstation frage, aber dann ist es | |
einfach. Schwieriger sind die Läufer zu finden. Es sind nicht viele und man | |
erkennt sie nicht ohne weiteres. Denn Startnummern gibt es auch keine. | |
Außerdem bin ich zu spät. | |
Da kommen vier Männer, gemessenen Schritts, einer ist Christian Hottas, 56. | |
Der Sportmediziner organisiert seit dem Jahr 2000 Marathonläufe in den | |
Teichwiesen. Drei, vier pro Woche. Er versucht, mit wenig Organisation | |
auszukommen: Anmeldung per Internet für fünf Euro, Nachmeldungen bis eine | |
halbe Stunde vor Laufbeginn für sieben. Start sollte an diesem Nachmittag | |
um 16 Uhr sein. Klappt aber nicht, sagt Hottas, weil die „Auswärtigen im | |
Stau steckten“. Glück gehabt. Wir gehen zur Startlinie, Hottas erzählt von | |
Helmut Braun, 60, Sauerländer, Chefarzt der Psychiatrie in Bethel, läuft | |
Marathon und Ultramarathon. Braun, grauer Patriarchenbart. Lange, graue | |
Haare, die er zu einem Zopf bindet, ist hier am 15. Juni seinen 300. | |
Marathon / Ultramarathon gelaufen. Geht aber mehr, als er läuft. | |
„Ah, da isses“, sagt Hottas, bleibt vor einer Bank stehen und zieht mit dem | |
Fuß eine Linie in den Sand. „So“, sagt er, und fragt „seid ihr fertig?“ | |
Alle nicken. Wir drücken auf unsere Uhren. Dann geht es los: Etwa eine | |
halbe Runde bis zum Ziel, einem kleinen Tisch, auf dem unsere Getränke | |
stehen, dann 16 Runden. Eine Runde hat 2,583 Kilometer. Runden laufen ist | |
gut: Es zerstört die Illusion, es ginge vorwärts und man käme irgendwo an. | |
Hottas ist Mitglied im „100 Marathon Club“, in den rein darf, wer mehr als | |
100 Marathonläufe gemacht hat. Sechs Menschen sind mehr als tausend | |
Marathons gelaufen, darunter drei Hamburger. Letztes Jahr, am 3. August, | |
hat Hottas den Hamburger Horst Preisler als Weltranglistenersten überholt. | |
Man sieht ihm das nicht an: Bauch, dicke Beine, schlenkernder Gang. Eine | |
Zahl anzugeben, wie viel Marathons Hottas aktuell hat, ist falsch: Er wird | |
sie überholt haben, wenn diese Zeitung erscheint. Kein Mensch ist häufiger | |
Marathon gelaufen als er. Er schafft so 150 im Jahr, im Januar hat er in | |
Kevelaer seinen 1500. reinen Marathon hinter sich gebracht. Addiert man | |
Marathon- und längere Strecken, nähert Hottas sich der Zahl 2.000: zwei Mal | |
um die Welt, so etwa. Zu Fuß. | |
Ich wackle hinter den anderen her, Rucksack auf dem Rücken, Jacke an, bei | |
25 Grad. Heute ist der „Jürgen von der Lippe-Marathon“: Hottas widmet jeden | |
Lauf irgendwem. Für den folgenden Tag, einen Samstag, hat er auch einen | |
angemeldet, aber es müssen drei Läufer sein, das verlangt der 100 Marathon | |
Club. | |
Ich versuche, Hottas nicht aus dem Blick zu verlieren. Die anderen sind | |
weg. Hottas zeigt mir das Ziel und den Tisch, auf den ich meine Flaschen | |
stelle. In der Startgebühr enthalten sind: Zitronentee, Kekse, | |
Gummibärchen. Das muss reichen. Ich kann das nicht, ich brauche | |
Energydrinks. Ich mache die erste meiner Flaschen leer. | |
Ich gucke auf die Uhr und versuche die Zeit und diesen ganzen Kram aus dem | |
Kopf zu bringen. Ich laufe los, strecke einen Finger aus für die erste | |
Runde und überlege, wie ich mir das Runden zählen spare. Ich weiß: Am Ende | |
werde ich nicht mehr wissen, wie viel ich noch laufen muss, wenn ich das | |
per Finger mache. Ich werde nach jeder Runde auf meine Stoppuhr drücken, | |
die zählt dann für mich. | |
Da vorne ist Hottas. Wir laufen gegen den Uhrzeigersinn, Radfahrer kommen | |
mir entgegen, Läufer. Innen ist es kürzer, aber da muss man ausweichen. | |
Ein türkisches Paar geht spazieren, eine junge Frau mit MP3-Player im Ohr | |
in einem Höllentempo, Schweißfilm auf der Oberlippe, ein älterer Läufer, | |
wir nicken uns zu, Radfahrer. Eine Frau mit Kleinkind und Dreirad. | |
Schnecken, nackt und rot. Die toten sind voller Ameisen. | |
Da vorne sind zwei der Auswärtigen, wahrscheinlich teilen die sich ihre | |
Kräfte besser ein. Ich laufe vorbei. Fehlt noch einer. Einer der beiden | |
hängt sich dran. Da vorne ist der andere. Ich zähle vier Steigungen, die | |
Dauer-Teichwiesenläufer nennen sie „Pyrenäen“ und „Alpen“. Wir laufen… | |
einer Weide entlang, auf der mal Gallowayrinder standen, dann Rot-Braune. | |
Kurz vor dem Ziel geht es noch mal hoch, dann kommt der Tisch mit den | |
Getränken. Stoppuhr drücken, zweite Runde. Meine Flasche will ich erst nach | |
drei Runden holen! Mir fällt ein Baumfriedhof auf: Dicke Stämme kreuz und | |
quer, ein abgesägter Baum auf der rechten Seite des Wegs. Gegenwind weht | |
Zeug von den Bäumen herab, das ich nicht im Gesicht haben will und schon | |
gar nicht schlucken. | |
Es regnet kurz, dann wird es wieder heiß. Ich höre Kirchenglocken. Ich | |
überrunde Hottas. Nach der achten Runde denke ich: „Schaffe ich nicht.“ | |
Aber Marathonlaufen ist, dann eben doch weiterzulaufen. Ich schütte | |
Energydrinks in mich rein, mir wird schlecht. Ich habe einen Stein im Schuh | |
und brauche eine Runde, bis ich mich entschließe, ihn rauszuholen. | |
Stehen bleiben ist schlimm, weil das Loslaufen keinen Spaß macht. „Setz | |
dich!“, rufen die Bänke. „Nur ein bisschen!“ Läufer kommen mir entgegen. | |
Spaziergänger. Wahrscheinlich ist es schön hier, ich kriege immer weniger | |
mit. Das Trikot von Thomas Hitzlsperger, West Ham United, scheuert. | |
Zehnte Runde, noch sechs. Alle zwei Runden nehme ich eine Flasche mit, dann | |
geht es leichter. Die Fußsohlen tun weh. Der Boden ist steinhart. Bis auf | |
den Blonden habe ich alle überrundet. Mindestens ein Mal. Auf einer Bank | |
sitzen zwei junge Burschen, trinken Bier und rauchen. Das hilft. An dieser | |
Bank hab’ ich ein Drittel der Runde, dann kommt ein blauer | |
Plastikhandschuh, zweites Drittel, dann der Rest. Alpen und Pyrenäen werden | |
mit jedem Mal steiler. | |
Ich nehme mir vor, über 4:20 Stunden zu laufen, um mir Druck zu nehmen. Die | |
Luftfeuchtigkeit ist enorm. Insekten sitzen im Schweiß auf meiner Stirn. | |
Ich wische sie weg. Die Haare sind nass wie nach einer Dusche. Ach, Dusche | |
– das wird großartig. Im Rucksack habe ich frische Klamotten. Eine Flasche | |
Traubensaft, als Belohnung. Eine Flasche Malzbier. | |
Runde 15 macht Spaß, die 16. ist zäh. Die Jungs sitzen nicht mehr auf der | |
Bank, wann kommt endlich der Handschuh? Da. Noch mal hoch, das geht auch | |
unter 4:20 Stunden. Ich schreie ein bisschen. | |
Das Umziehen geht schwer, dann kommen Hottas und per Zufall Oli, mit dem | |
Rad, der mir beim Erstellen des Protokolls hilft. Namen eintragen, | |
Geburtsdatum, Zeit. Oli bringt mich zur U-Bahn. Ich hatte Bammel vor den | |
eineinhalb Kilometern. Mit Oli geht das. Treppen hoch geht auch, die | |
Treppen, die ich an meiner Station wieder runter muss, gehe ich rückwärts. | |
Das macht Hottas jeden zweiten Tag. Grob gesagt. | |
29 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Roger Repplinger | |
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