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# taz.de -- Die Wahrheit: Krallen auf dem Transit
> Die Wahrheit-Woche der Narben: Der Kater und das Brandzeichen.
Es gibt Männer, die haben so furchterregende Narben, dass man denkt „Dem
will ich ganz bestimmt nicht im Dunkeln begegnen“ oder „Ach, dem würde ich
gern mal im Dunkeln begegnen …“ Und dann gibt es noch das Thema „Frauen u…
Narben“, und wenn man Tina Fey ist und so unfassbar komisch und
außerirdisch intelligent wie die amerikanische Komikerin, Autorin und
Sarah-Palin-Parodistin, dass so eine Schnittnarbe geradezu sexy wirkt …
Doch sehen wir der Wahrheit ins Gesicht: Es gibt nur eine Tina Fey, weshalb
man als Frau auf Narben am besten verzichtet und das ganze
Wer-hat-die-größte-fieseste-heldenhafteste getrost den Männern überlässt.
Es ist ja immer das Auffälligste, das den lautesten Applaus kriegt. Aber
wenn man mal nach dem Kleinsten, Verstecktesten guckt! Da gibt es einiges
zu entdecken.
Das fand wohl auch Wolfgang Neuss, einer, der sowieso kapierte, worum es
wirklich geht. Er besang 1958, rechtzeitig zu meiner Geburt in die
rheinische Provinz, ein „Mädchen aus einer kleinen Stadt“, die „kleine
Türme, aber keine Schule haben muss, dafür aber einen ordentlichen
Lehrkörper, geeignet für einen wissbegierigen Mann“. Anfang der Sechziger
ist Adenauer Bundeskanzler, und wir befinden uns in einem Jahrhundert, in
dem die Menschheit noch von Pest und Cholera und Pocken heimgesucht wird
und nicht von allerlei läppischem Zeug wie Burn-out und „Isch hab’ Rücken…
Mein Kinderarzt, der nette Dr. Josten aus Bad Godesberg, muss ein
aufmerksamer Wolfgang-Neuss-Hörer und dem weiblichen Geschlecht recht
zugetan sein, denn offenbar macht er sich Gedanken über meinen zukünftigen
Lehrkörper. Sein Ziel heißt Narbenminimierung.
Wer je mit Menschen der Generation Zig plus beim Strandurlaub
zusammentrifft und die Gelegenheit zu Körperstudien nutzt, der darf die
brandzeichenähnlichen, frisbeegroßen Flatschen studieren, die vorzugsweise
weibliche Oberarme oder -schenkel zieren. Dr. Josten multipliziert also
Lebensalter mit Cellulitiswahrscheinlichkeit und setzt sein Werkzeug am
oberen Rand meines Rippenbogens an, da, wo das Herz schlägt und die Haut
straff bleibt. Dort, so herrscht die Lehrmeinung, würde das zuverlässige
Zusammenwirken von Hormonen und Wachstum die von Neuss so zärtlich
besungenen Türme entstehen lassen, und in ihrem Schatten sollte sie
verschwinden, meine Pockenimpfnarbe.
Der gute Doktor wäre nicht genug zu preisen, wenn nicht die Natur etwas
anderes vorgehabt hätte. Die Türme bleiben im Türmchenstadium stecken,
woran die gute Sichtbarkeit meiner Impfnarbe die ganze Pubertät hindurch
zäh erinnert. Einmal, im Sommer, drückt mir ein pickeliger Teenager seinen
fetten Daumen unters Bikinoberteil. „Is dat der Knopp zum Ein- und
Ausschalten?“ Danke, Dr. Josten!
Die Siebziger gehören den seelischen Pubertätsnarben. Die Außenwelt bastelt
derweil an Ostverträgen. Im Jahr 1981 reise ich dann von Hamburg nach
Berlin – im Auto, denn kein Mensch will zwei Monate meinen Kater versorgen.
Korb kaufen, Viech rein. Eine Freundin nützt die Mitfahrgelegenheit. Wir
fahren los.
Ich habe einen Morris Minor Traveller, Baujahr 1967, der sich nicht nur
durch eine Art Rasenmähermotor, streikende Benzinpumpe und andere sehr
britische Eigenwilligkeiten auszeichnet, sondern auch durch eine eckige
Holzkonstruktion mit Doppeltür zum Laderaum. Dort befindet sich außer
meinem Koffer der Kater in seinem Korb und kreischt um sein Leben. Offenbar
gefällt ihm die Umgebung überhaupt nicht.
Die Transitstrecke windet sich über die F5 Berlin-Staaken. Kurz vor
Ludwigslust sind wir weichgekocht. „Ich halt das nicht mehr aus, wir lassen
den jetzt raus, vielleicht hält er dann die Klappe.“ Gesagt, getan. Die
Freundin beugt sich nach hinten, entriegelt das Gefängnis, ein schwarzes
Fellbündel rast wie ein Kugelblitz durchs Wageninnere, und bei Tempo
achtzig auf Kopfsteinpflaster schlägt das panische Vieh seine Klauen in
meinen Hals, wo es mit vollem Gewicht zitternd hängenbleibt. Blut rinnt.
Jetzt kreische ich. Am Straßenrand eine Tanke. Raus aus dem Auto. Leider
haben wir versäumt, die Aufgaben zu verteilen – Tür öffnen, Kater in Schach
halten, zurück in den Korb stopfen – und reißen gleichzeitig beide
Türflügel auf. Das Vieh nutzt die Gelegenheit und entweicht in einen
Birkenbruch. Mein Kater will rübermachen! Wir stürzen ihm nach. Ein Typ im
Overall pöbelt uns hinterher: „Hier könn’ se nich halten, ich ruf die
Polizei …“
Sind die hier eigentlich genau so blöd wie bei uns? Werden wir jetzt auf
der Flucht erschossen? Wir robben auf den Bäuchen durchs Unterholz, mein
westdeutsches Blut tränkt ostdeutschen Waldboden. Eine Viertelstunde später
pferchen wir zerschunden einen schwitzenden Kater zurück ins Körbchen und
ertragen drei ohrenbetäubende Stunden Restfahrt.
Für die Rückfahrt hab ich ihn narkotisiert. Er hat Spuren hinterlassen,
nicht nur am Hals. Im zarten Alter von 21 verschwand er plötzlich, und ich
erklärte ihn für tot. Mitten in der schönsten Trauerphase erfuhr ich, dass
er zum Nachbarn gezogen war, wo er mit gesegneten 25 Jahren auf einem
Liegestuhl im Garten starb.
Er hatte Klasse. Sein Erinnerungsstück trag ich gern – den Ein- und
Ausschaltknopf mit Würde.
30 Jun 2012
## AUTOREN
Pia Frankenberg
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