# taz.de -- Il Cinema Ritrovato in Bologna: Die Zukunft der Vergangenheit | |
> Eine Woche lang suspendiert das Kino den Alltagsbetrieb und wird von | |
> seiner eigenen Geschichte überschwemmt: Il Cinema Ritrovato in Bologna. | |
Bild: „Le ciel est à vous“ von 1944: Zartes Drama im realistischen Stil ü… | |
Ein Schriftzug schiebt sich quer über das Bild: „Die Pflicht“. Der | |
Leuchtturmwärter Bréhan rafft sich auf und geleitet ein von Wind und Wellen | |
gebeuteltes Schiff sicher in den Hafen mithilfe desselben Scheinwerfers, | |
der seinem Sohn vorher zuerst den Verstand und dann das Leben gekostet | |
hatte. Wenn Bréhan vom Film, in einer Art kinematografisch-religiösen | |
Intervention, zur Ordnung gerufen wird, dann hat man im Kinosaal eine tour | |
de force sondergleichen hinter sich: „Gardiens de phare“ aus dem Jahr 1928, | |
ein später Stummfilm des französischen Meisterregisseurs Jean Grémillon, | |
ist ein ekstatischer Film über das Licht und die Psychose; und also auch | |
ein Film über das Kino. | |
Der Leuchtturm des Films wirft sein Licht nicht nur aufs Meer, in erster | |
Linie verwandelt er das Innere des Turms in eine rhythmisch illuminierte | |
Höhle. Mehrmals richtet sich die Kamera auf die Lichtquelle selbst und auf | |
die diese umkreisenden rotierenden Blenden – der Film nähert sich der | |
reinen Abstraktion an, als deren Rückseite sich eine Familientragödie | |
entfaltet. | |
Andere Spuren in diesem geheimnisvollen Film führen zu einem tollwütigen | |
Hund, zu einem frenetischen Volkstanz und zu drei Frauen, die in einem Haus | |
am sicheren Ufer warten und mal ängstlich, mal sehnsuchtsvoll auf den | |
Leuchtturm blicken. | |
## Aktualität des Archivs | |
„Gardiens de phare“ ist einer jener Filme, über die man sich direkt nach | |
dem Verlassen des Kinosaals unbedingt mit anderen Besuchern unterhalten | |
möchte; schon, weil man sicher gehen möchte, dass die Bilder auch von | |
anderen wahrgenommen wurden und nicht den eigenen Träumen entsprungen sind. | |
Grémillons Film war eine der größten Entdeckungen des diesjährigen Il | |
Cinema Ritrovato, eines Festivals, das von der Cineteca di Bologna | |
ausgerichtet wird und sich spezialisiert hat auf historische Filmprogramme. | |
Filme aus den letzten drei Jahrzehnten werden nur in Ausnahmefällen | |
vorgeführt, die Spannbreite reicht von der frühen Stummfilmzeit – eine | |
Programmschiene präsentierte das Kino des Jahres 1912 – bis zu den | |
Kinematografien der sechziger und siebziger Jahre. | |
Was das Festival allerdings durchaus interessiert, ist die Aktualität der | |
Archivarbeit: Jahr für Jahr präsentieren Restauratoren aus aller Welt ihre | |
aufwändigsten Projekte und geben einen Eindruck von der Zukunft der | |
Vergangenheit des Kinos. Auch die wird, daran ließ das diesjährige Festival | |
keine Zweifel, weitgehend dem digitalen Bild gehören. | |
Wer jedoch in Bologna die kraftvoll pulsierenden Farben einer alten | |
Zelluloidkopie von John Boormans New-Hollywood-Meisterwerk „Point Blank“ | |
gesehen hat, der wird sich wünschen, die Zukunft möge sich noch eine ganze | |
Weile gedulden – oder zumindest der Historizität des materiellen | |
Gegenstands Film, in den sich noch bis vor Kurzem mit jeder einzelnen | |
Projektion Gebrauchsspuren eingetragen haben, auf die eine oder andere Art | |
Rechnung tragen. Nicht so sehr mit der Digitalisierung selbst, aber umso | |
mehr mit dem Hochglanzfetischismus der High-Definition-Gegenwart ist und | |
bleibt ein materialbewusster Umgang mit Filmgeschichte radikal | |
inkompatibel. | |
## Verschroben und schön | |
Als kleines, dreitägiges Liebhaberfestival hatte das Cinema Ritrovato 1986 | |
begonnen, seit ungefähr zehn Jahren befindet es sich im Zustand der | |
ständigen Expansion: mehr Kinosäle, mehr internationale Gäste, mehr | |
Filmreihen, mehr Filme. Und gleichzeitig weniger Wiederholungen: Oft genug | |
muss man sich zwischen zwei Raritäten entscheiden, was man einmal verpasst, | |
kommt nicht wieder – manches, zumindest in analoger Form, vielleicht | |
tatsächlich: nie wieder. | |
Auch der gerade für ein filmhistorisches Festival erstaunlich sorglose | |
Umgang mit dem Material sorgte für einige Verstimmung: Kaum eine Vorführung | |
ging ohne kleine oder größere technische Pannen über die Bühne. | |
Dennoch bleibt das Cinema Ritrovato unvergleichlich und unersetzbar. Dieses | |
Jahr war der Stummfilmpionierin Lois Weber ein Programm gewidmet, ein | |
anderes Filmen, die die Weltwirtschaftskrise 1929 reflektieren; den | |
Hollywood-Routinier Raoul Walsh konnte man ebenso entdecken wie japanische | |
Filme aus den frühen Dreißigern. | |
Und eben Jean Grémillon, einen hervorragenden Stilisten und Meister aller | |
Tonarten: Zwölf Filme wurden in Bologna vorgeführt, kurze Dokumentarfilme | |
aus den Zwanzigern, klassisches Starkino aus den Dreißigern („Geule | |
d’amour“, mit Jean Gabin als Frauenheld), verschrobene Melodramen aus den | |
Vierzigern („Pattes planches“). | |
## Humanistisches Komplementärwerk | |
„Le ciel est à vous“ von 1944, den schönsten der in Bologna vorgeführten | |
Tonfilme Grémillons, kann man als humanistisches Komplementärwerk zur | |
expressionistischen Opferfantasie „Gardiens de phare“ nehmen: ein zartes | |
Drama im realistischen Stil über ein Ehepaar, dessen Liebe in der | |
gemeinsamen Begeisterung für die Luftfahrt ein weiteres Medium findet. | |
Damit Thérèse Gauthier den Weltrekord im Langstreckenflug aufstellen kann, | |
setzen die beiden, gegen die Vernunft und gegen die Gesellschaft, die | |
gemeinsame materielle Existenz und sie schließlich auch sogar ihr Leben | |
aufs Spiel. Grémillon interessiert sich bei alldem nicht für | |
Liebestod-Pathos, sondern nur für die rührende Hilflosigkeit zweier | |
Menschen, die ihren eigenen Gefühlen schutzlos ausgeliefert sind. | |
2 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Lukas Foerster | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Filmfestival in Bologna: Botschaften, die hart treffen | |
Das Festival Il Cinema Ritrovato rückt den Regisseur John M. Stahl ins | |
Zentrum: Seine Filme über Rassismus und Männlichkeit wirken erschütternd. |