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# taz.de -- Aufklärung für alle Generationen: Sex – und wie er wirklich ist
> „Make Love“ hilft Jugendlichen auf der Suche nach sich selbst und der
> sexuellen Erfüllung. Die Autorinnen nennen die Dinge beim Namen, ohne
> sich anzubiedern.
Bild: Schon auf dem Cover wird ordentlich Love gemaket: Das Aufklärungsbuch �…
Mit etwa zwölf Jahren wurde ich in einem Ostseeurlaub Zeuge von einem
Ereignis, das mich zutiefst irritierte. Ich war nachts aufgewacht, weil ich
aus dem elterlichen Schlafzimmer Laute vernahm, die mir Angst machten.
Meine Mutter stöhnte. Ich war sicher, dass sie große Schmerzen haben
musste. Ich wunderte mich, dass mein Vater, ein Allgemeinarzt, nichts
unternahm, um dem Stöhnen ein Ende zu bereiten.
Auf Zehenspitzen schlich ich zur Tür und drückte mit angehaltenem Atem die
Klinke herunter. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich meinen Vater auf
meiner Mutter liegen. Ich erschrak so sehr, dass ich die Tür sofort wieder
schloss.
Ich hatte eine äußerst vage Vorstellung davon, was in dieser Nacht passiert
war. Aber ich hatte etwas gesehen, was mich interessierte. Etwa ein Jahr
später nahm ich einen Taschenspiegel und eine Taschenlampe mit in mein
Kinderzimmer. Ich wollte wissen, wie ich zwischen den Beinen aussah.
## Mann und Frau
Meine Eltern hatten zwar das Standardwerk „Mann und Frau intim“ im Regal.
Dieses Buch war 1969, fünf Jahre nach meiner Geburt, erstmals in der DDR
erschienen – im gleichen Jahr war im Westen der „Sexualkundeatlas“ für
bundesdeutsche Schulen ein Meilenstein in der Aufklärungspolitik. Doch
hätte ich mir den Ratgeber ausgeliehen, wäre das mit Fragen verbunden
gewesen, die mir peinlich gewesen wären.
Also brachte ich unter der Bettdecke Taschenlampe und Spiegel so in
Position, dass ich sehen konnte, was ich sehen wollte. Ich hatte Angst,
erwischt zu werden, und schämte mich für meine Neugierde. Hätten mich meine
Eltern gefragt, was der Spiegel und die Taschenlampe bei mir zu suchen
haben, hätte ich wahrscheinlich gestammelt, dass die Taschenlampe so eitel
ist, dass sie einen Spiegel braucht.
In Zeiten, in denen das Internet bis in jede Körperöffnung vordringt,
Heranwachsende rund um die Uhr Zugang zu Pornos haben, Dreijährige das Wort
„ficken“ oder „fuck“ benutzen, und in Doku-Soaps überforderte
Teenagermütter gezeigt werden, kann schnell die Befürchtung aufkommen, dass
es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Kondome in den Schultüten stecken.
Die Realität sieht zum Glück anders aus. Die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung hat 2010 festgestellt, dass sich Jugendliche in
Deutschland mit dem ersten Sex mehr Zeit lassen und besser als je zuvor
verhüten.
Verglichen mit der letzten Erhebung von 2005 sank bei den 14-jährigen
Mädchen der Anteil derer, die bereits Sex hatten, von 12 auf 7 Prozent. Bei
den gleichaltrigen Jungen fiel er von 10 auf 4 Prozent. Nur noch 66 statt
vorher 73 Prozent der 17-jährigen Mädchen hatten Sexerfahrungen, bei den
Jungen dieser Altersgruppe blieb es bei etwa 65 Prozent.
Solche Ergebnissen wischen die These der „Generation Porno“ vom Tisch. Und
sie legen nahe, dass auch in Zeiten des Virtuellen ein Aufklärungsbuch Sinn
hat. „Make Love“ richtet sich an Heranwachsende, die auf der Suche nach
sich selbst und der sexuellen Erfüllung sind und mehr wissen wollen als die
abgefahrenste Stellung.
## Sex ist erlernbar
„Make Love“ richtet sich in einem Ton an die Zielgruppe, der weder
anbiedernd noch belehrend ist und trotzdem zur Sache kommt. Ann-Marlene
Henning, Jahrgang 1964, studierte Neuropsychologie und Sexologie.
Mitautorin Tina Bremer-Olszewski, Jahrgang 1973, ist freie Journalistin und
Kulturwissenschaftlerin.
„Der Ansatz ist, Menschen dazu anzuregen, ihr erotisches Potenzial auf der
körperlichen und der emotionalen Ebene auszuloten, zu üben und zu
entfalten“, fassen sie zusammen. Einige grundsätzliche Überlegungen stammen
aus dem „Sexocorporel-Konzept“. Eine zentrale Rolle spielt dabei die
Erkenntnis, dass in der Sexualität der „genitale Erregungsreflex“ angeboren
ist, nicht aber die Fähigkeit, Lust zu genießen. Ergo: Sex ist erlernbar.
Die Autorinnen nennen die Dinge beim Namen und listen gleich am Anfang
Dutzende Begriffe für das weibliche und männliche Geschlechtsorgan auf. Sie
reichen von Muschi, Kätzchen über Feuchtgebiet und Leckermaul bis Punze und
Zwetschge, von Phallus, Gemächt, Schusterjunge, Büchsenöffner bis
Zeremonienmeister und Zauberflöte.
Sie wollen Heranwachsenden ihre Ängste und Unsicherheiten nehmen, ihnen
vermitteln, dass sie sich für nichts schämen müssen. Unangenehme
Situationen lassen sich umgehen – durch Reden. „Sex ist auch eine Art
Dialog.“ Reden statt rammeln lautet die Devise. Und: Wer Bescheid weiß, hat
mehr Spaß.
## Das „Erste Mal“ als Eistanz
Die Vergleiche, die die Autorinnen wählen, mögen manchmal banal erscheinen,
aber sie funktionieren: „Stell dir vor, du spielst Klavier. Du probierst so
lange rum, bis du ein paar einfache Melodien kannst. Dein Flohwalzer hört
sich schon mal gut an. Wenn man aber alle Finger einsetzt und die ganze
Klaviatur nutzt, kann man sogar mehrstimmige Stücke erlernen. Und mit einem
Partner klasse vierhändig spielen.“
Das erste Mal vergleichen sie mit einem Paar beim Eistanz: „Die Tänzer sind
nur dann gut, wenn sie sich aufeinander verlassen und stützen, wenn einer
mal ein bisschen wackelt. Man muss auf den anderen achtgeben und auf seinen
Ausdruck reagieren. Drängt man den anderen zu einer schwierigen Figur, wird
er unsicher, verliert das Vertrauen und stürzt. Lieber mit kleinen
Schritten an die neue Figur herangehen.“
Das Buch greift viele falschen Bilder auf, mit denen Jugendliche
aufwachsen, und rückt sie zurecht. Beispiel „Sperma-Überschwemmung“: „W…
in Pornos abgespritzt wird, sieht man da immer ganz schön viel Sperma durch
die Gegend klatschen. Alles Fake! Wenn du kommst, ejakulierst du eine Menge
von etwa einem halben Teelöffel.“ Oder das „Wieselficken“, womit „rein,
raus, rein, raus, zack, zack“ gemeint ist: „Das braucht erstens länger und
zweitens wird die Frau nicht so richtig stimuliert.“
Auch der „Pornobusen“ kriegt sein Fett weg: „Viele Pornodarstellerinnen
haben riesige Brüste. Das Tolle: Die stehen auch noch wie ’ne Eins! Solche
Brüste sind nicht echt. Denn da gibt es ja die Schwerkraft. Wer große
Brüste hat, der weiß: Die gucken oft ein bisschen nach unten.“ Über
„Schluckfreude“ heißt es: „Frauen in Pornos schlucken immer sehr gerne u…
lassen sich ins Gesicht spritzen. Das ist Geschmackssache. Jungs, habt ihr
euer Sperma schon mal probiert? Vanilleeis schmeckt besser.“
Während die Autorinnen erzählen, was Sex ist, was er mit uns macht und wie
er funktioniert, zeigen die Schwarzweiß- und Farbfotos, die das Buch
illustrieren, Paare beim echten Sex. Die 1976 in Südkorea geborene
Fotografin Heji Shin hat in Berlin auf der Straße junge Leute zwischen 18
und 25 Jahren angesprochen, Heteros, Schwule und Lesben, und sie beim
Liebesspiel fotografiert.
## Auch Erwachsene als Zielgruppe
Zu sehen sind sowohl zärtliche Umarmungen und Küsse als auch erigierte
Penisse und gespreizte Schamlippen. Ergänzt wird das Buch durch
Informationskästen zu den unterschiedlichsten Themen: die Geschichte der
Masturbation, die an einem Zungenkuss beteiligten Muskeln bis hin zur
Wirkungsweise von Testosteron oder der Entdeckung der Klitoris, der erst
durch eine Studie 1987 attestiert wurde, kein verstümmelter Penis zu sein.
Schaut man sich im Internet Leserstimmen an, entpuppen sich auch Erwachsene
als Zielgruppe für das Aufklärungsbuch. Eine Mutter, die es für ihre
12-jährige Tochter gekauft hat, schreibt, dass sie „auf jeden Fall selbst
noch eine Menge“ aus dem Buch lernen wolle, bevor sie es ihrer Tochter
gibt.
Ein Mann, der das Buch für seinen 14-jährigen Neffen erworben hat, behält
ein Exemplar für sich, „man kann ja immer noch etwas lernen“. Eine Mutter
von zwei Söhnen freut sich über das „traumhaft ehrliche“ Werk: „Ich wer…
es mir wohl auch noch das eine oder andere Mal schnappen.“
In der Einleitung des Aufklärungsbuchs steht mit Anspielung auf den
Hippieslogan „Make love, not war“, dass auch heute die meisten Mädchen
erwachsen werden, ohne jemals ihr Geschlechtsorgan wirklich gesehen zu
haben. In dem Kapitel „Hosen runter“ gibt es dazu folgenden Rat: „Wenn ihr
bis jetzt eure Vulva noch nicht gesehen habt – schaut mal mit dem Spiegel
nach.“
Ann-Marlene Henning & Tina Bremer-Olszewski: „Make Love. Ein
Aufklärungsbuch“. Verlag Rogner & Bernhard, Berlin 2012, 256 Seiten, 22,95
Euro
13 Jul 2012
## AUTOREN
Barbara Bollwahn
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