# taz.de -- Wahlen in Indien: Der lebendige Tote | |
> Indien wählt einen Präsidenten. Diesmal wollte einer antreten, dessen | |
> Beerdigung man schon gefeiert hatte. Jetzt kämpft er für die Untoten. | |
Bild: Auch auf dem Papier lebendig: Der wahrscheinliche Gewinner der Wahl am ko… | |
Natürlich war es für Santosh Kumar Singh abzusehen, dass er kaum eine | |
Chance haben würde, Indiens Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Der 32 Jahre | |
alte Koch ist kein Politiker, und außerdem ist er seit neun Jahren tot – | |
zumindest offiziell. | |
Er wollte nur für das höchste Staatsamt antreten, um zu beweisen, dass das | |
nicht stimmt. „Ich habe beschlossen, mich für die Wahl aufstellen zu | |
lassen, um die Regierung daran zu erinnern, dass ich lebe“, sagte Santosh. | |
Monatelang hat der schlanke, bärtige Mann am Jantar Mantar kampiert – dem | |
„Protestodrom“ von Indien. Um die Sternwarte aus dem 18. Jahrhundert | |
inmitten der Hauptstadt Neu-Delhi versammeln sich jeden Tag Menschen, die | |
demonstrieren – für die Freiheit Tibets, gegen Korruption, für Erleuchtung. | |
Santosh hatte an einem Gitterzaun ein kleines Plakat befestigt: „Uttar | |
Pradesh hat mich für tot erklärt, aber ich bin am Leben.“ | |
Doch sein Protest blieb ohne Resonanz. Auch seine Schreiben an die indische | |
Regierung brachten keinen Erfolg. Santosh stammt aus dem Bundesstaat Uttar | |
Pradesh in Nordindien. Dort, so sagt er, gehört ihm ein Stück Land, das ihm | |
seine Familie weggenommen hat, indem sie ihn für tot erklärte. | |
Santosh ist nicht der Einzige, den Verwandte aus dem Melderegister haben | |
streichen lassen, um sich zu bereichern. Kürzlich erst hat sein Heimatstaat | |
Uttar Pradesh die Meldedaten von 221 Menschen korrigiert – und sie so | |
wiederbelebt. | |
Die Präsidentschaftskandidatur als Protest: Das war sein Plan. Allerdings | |
scheiterte er schon bei der Registrierung. „Sie haben mich wieder | |
weggeschickt, weil ich keinen Personalausweis habe“, erzählt Santosh der | |
Times of India. Ein solches Dokument fehlt vielen Armen in Indien. | |
Der Irrweg von Santosh Kumar Singh begann mit einer Liebesheirat, die | |
seiner Familie nicht passte, so erzählt er das. Eigentlich begann er noch | |
früher – mit Bollywood, der Traumfabrik Indiens, die eines Tages in das | |
verschlafene Dorf Chittoni kam, in dem Santosh lebte. | |
Ein Filmteam heuerte Santosh als Koch an. Für den damals 20-Jährigen, der | |
als Waisenkind aufwuchs, war es, als seien die Götter vom Himmel | |
herabgestiegen. Santosh folgte einem Bollywood-Star in die Millionenstadt | |
Mumbai, wo die Kinofilme für ein Milliardenpublikum entstehen. | |
Frei von den Zwängen seines Dorfs heiratete der Koch in der Großstadt eine | |
Frau aus der Dalit-Kaste, eine Unberührbare. Das Paar bekam einen Sohn, und | |
die Welt war in Ordnung. Doch was in Mumbai, dem Schmelztiegel Indiens, | |
geht, ist anderswo im Land immer noch ein Tabu. Als Santosh 2003 zurück in | |
sein Dorf kam, musste er feststellen, dass seine Familie ihn für tot | |
erklärt hatte. Seine Onkel und Cousins hatten ihn als vermisst gemeldet, | |
später dann seine Bestattung gefeiert und für Santosh, den | |
Bollywood-Ausreißer, den Totenschein ausstellen lassen. | |
Natürlich ging es auch um die fünf Hektar Land, die Santosh gehören würden, | |
wenn er nicht tot wäre. Santosh sieht sich um sein Erbe betrogen, weil er | |
eine „Unberührbare“ geheiratet hat. | |
Offiziell ist Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer Kaste in | |
Indien gesetzlich verboten, doch wer nur einen kurzen Blick in die | |
Heiratsanzeigen einer indischen Zeitung wirft, sieht, wie lebendig das | |
System weiterhin ist. Dort suchen Brahmanen – das ist die höchste Kaste – | |
einen brahmanischen Bräutigam für ihre Tochter. Kasten- und Unterkasten | |
sind fein säuberlich getrennt. Eine Vermählung außerhalb der eigenen Reihen | |
ist unüblich und meist unerwünscht. Indiens neuer Reichtum verstärkt das | |
System eher: Neben der Kaste muss jetzt auch das Geld stimmen, wenn | |
geheiratet wird. | |
Seit 2003 tut Santosh alles, um zu beweisen, dass seine Familie ihn zu | |
Unrecht für tot erklärt hat. Das ist nicht ganz einfach in Indiens | |
orientalischer Bürokratie: Die Dorfpolizei hielt zu den Angehörigen. | |
Santosh glaubt, seine Familie habe Bestechungsgelder gezahlt. Als er die | |
Polizei um Hilfe bat, wurde ihm beschieden, er solle lieber das Weite | |
suchen: „Noch bist du nur auf dem Papier tot, aber wenn du nicht aus dem | |
Dorf verschwindest, dann bist du es bald wirklich“, so erzählt Santosh | |
einmal von seiner Begegnung mit den Ordnungskräften. | |
Appelle an die Nationale Menschenrechtskommission blieben ebenso ungehört | |
wie Besuche auf diversen Polizeistationen. Santosh versucht seit neun | |
Jahren Beweise zu sammeln, dass er am Leben ist. | |
Ziemlich sicher wird der frühere Finanzminister Pranab Mukherjee am | |
kommenden Donnerstag in das höchste Staatsamt gewählt, das ähnlich wie in | |
Deutschland kaum politische Macht, sondern mehr moralisch-dekorativen | |
Charakter hat. Der 76-jährige Politikveteran ist von der regierenden | |
Kongresspartei aufgestellt worden. | |
Santosh Kumar Singh hingegen darf gar nicht kandidieren. Aber irgendwie | |
gewinnt er trotzdem. Seine Geschichte geht um die Welt. Man berichtet über | |
ihn. Er wirkt sehr lebendig – wenn auch noch nicht auf dem Papier. | |
15 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Agnes Tandler | |
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