# taz.de -- Russische Juden in Berlin: Unerwartet gut gelandet | |
> In ihrer russischen Heimat definierten sich Juden weniger über ihre | |
> Religion als durch ihren kulturellen Beitrag. In Deutschland entwickeln | |
> sie individuelle Formen von Religiosität. | |
Bild: Mindestens zwei Drittel aller nach Berlin zugereisten Juden gehören der … | |
BERLIN taz | „Ihr spielt gute Menschen, die einander immer wieder | |
versichern: Alles wird gut!“, erklärt Mascha auf Russisch: „Das sagen Leute | |
oft, wenn es bedenklich um sie steht.“ Vor etwa 150 Stahlrohrstühlen in | |
einem nüchternen Seminarraum sitzen junge Laiendarsteller auf der Suche | |
nach ihrer eigenen Identität auf einer imaginären Bühne um eine imaginäre | |
Festtafel. Die Personen des Stückes reden, als befänden sie sich im | |
russisch-tschetschenischen Konflikt, doch Schauplatz ist der Krieg in | |
Israel. | |
„Ne kurit‘!“ (Nicht rauchen!) mahnt ein Schild im Korridor in dicken | |
kyrillischen Lettern. Der nüchterne Saal liegt hinter einer prächtigen | |
Fassade, im Gebäude der ursprünglich 1866 errichteten Neuen Synagoge mitten | |
in der Stadt. 1943 zerbombt, wurde sie während der Wiedervereinigungsjahre | |
rekonstruiert. Jetzt schimmert wieder weithin die Kuppel mit ihren blauen | |
Glasverkleidungen. | |
Maria Zharkova alias Mascha, 30 Jahre alt, im blaukarierten Hemd und mit | |
dunkelblondem Zopf, spricht leise. Ihr zehn Monate alter Sohn Leo brabbelt | |
bei der Probe eines seiner ersten Worte: „Besobrasie!“ – auf Deutsch: „… | |
eine Unverschämtheit!“ Als Tochter jüdischer Einwanderer wuchs Mascha in | |
Erlangen auf. Später hat sie Moskaus berühmteste Theaterhochschule | |
absolviert, das Gitis. Sie kam zurück, weil Schauspieler in Deutschland | |
mehr Möglichkeiten haben, etwas „ganz Eigenes“ zu machen. Wie zum Beispiel | |
das russischsprachige Theaterstudio „Karamasoff Sisters“ für junge Leute | |
zwischen 18 und 30 an der jüdischen Gemeinde in Berlin. Sie leitet es | |
zusammen mit ihrem aus Israel stammenden Mann und Kollegen Daniel Frajman. | |
Als mit der Wende in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion dort auch | |
Nationalismus und Antisemitismus erstarkten, sprach 1991 die gerade | |
wiedervereinigte Bundesrepublik dort ausreisenden Juden einen Status als | |
sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ zu. Mindestens 80 Prozent seiner in | |
Religionsgemeinschaften organisierten Juden verdankt ganz Deutschland der | |
darauf folgenden Immigrationswelle. | |
## Alteingesessene klagen | |
Der Konflikt in den hiesigen jüdischen Gemeinden war vorprogrammiert. Die | |
„Russen“ (von denen in Wirklichkeit nur ein Drittel aus Russland stammen) | |
kämen mit einer Versorgungsmentalität an, klagten die alteingesessenen | |
Gemeindemitglieder. Es ginge ihnen nicht um den Glauben, sondern nur ums | |
Kulturprogramm. Ja, und viele hatten tatsächlich keine jüdische Mutter. | |
Spielend die Welt zu bewältigen, das war es, worin die Juden in der | |
ehemaligen Sowjetunion den andern Völkern behilflich sein konnten. Ihre | |
ethnische Identifikation fanden sie oft nicht mehr in der jahrzehntelang | |
offiziell verfolgten Religion, sondern in herausragenden Persönlichkeiten | |
des Kulturlebens, jüdischen Regisseuren, Sängern, Schriftstellern und | |
Generationen mutiger jüdischer Komiker. Angefangen von Arkadi Rajkin, der | |
in den 30er Jahren als Kleindarsteller mit einem Einkaufsnetz vor Stalins | |
ganz realer Festtafel in einer ganz imaginären Schlange stand. Jude oder | |
Jüdin zu sein bedeutete da, auf die Umstände mit Bildung und Witz zu | |
reagieren. | |
„Jetzt oder nie! Das war die Devise. Die meisten wollten nur weg aus dem | |
Sowjetsystem“, sagt Eleonora Shakhnikova, 41, seit 2001 Leiterin des | |
Integrationsbüros der jüdischen Gemeinde Berlin und erhebt sich in einem | |
aquariumähnlichen Büro auf dem Grunde eines Hinterhofes neben dem Kaufhaus | |
des Westens. Mit schulterlangem dunklen Haar, einem schmalen Wollkleid und | |
weißen Händen bahnt sie sich ihren Weg durch die vormittäglichen Schatten | |
wie durch ein Chagall-Bild. Sie fährt fort: „Zu Hause war das Leben | |
gegängelt von der Wiege bis zur Bahre. Hier mussten sie lernen, dass es | |
nichts Sicheres gibt. Das war oft sehr bitter.“ | |
Viele Berufsabschlüsse wurden nicht anerkannt. Die meisten über | |
Fünfundvierzig landeten als SozialhilfeempfängerInnen. Shakhnikova | |
schließt: „Fast niemand von den Migranten hatte damals vor, hier zu | |
bleiben. Aber dann lebten sie sich doch ein. Manche bürokratischen | |
Formalitäten dauern hier eben Jahre. Auch erwies sich die Umsiedlung für | |
viele Kinder als Trauma. Die Eltern wollten ihren so etwas nicht ein | |
zweites Mal zufügen.“ | |
Beim Ehepaar Elena und Shenja Shafranov aus Sankt Petersburg, beide Anfang | |
vierzig, klingt es anfangs, als sei ihre Ausreise eine Frage des Stils | |
gewesen. „Wir konnten dort einfach nicht so leben, wie wir es uns | |
vorstellten“, erklären sie. „Stilwerk“ heißt das kleine Petersburger | |
Einrichtungshaus, für das er in Berlin arbeitet. Sie ist Programmiererin in | |
einer deutschen Firma. Keine „gebürtige“ Jüdin, hatte Elena am Telefon | |
vorsichtshalber gewarnt. Nun sitzt sie mit dunkelblonden kurzen Haaren in | |
der Pizzeria, antwortbereit. | |
## Gegen unnötige Verbote | |
Mindestens zwei Drittel aller nach Berlin zugereisten Juden gehören der | |
Gemeinde gar nicht an. Wer, wie die Shavranovs, den Kontakt trotzdem sucht, | |
entwickelt oft sein ganz eigenes Konzept von Religiosität. Denn bei Elenas | |
und Shenjas Ausreise ging es doch auch um Spiritualität, um die Begegnung | |
mit dem Tod. Sie wollten Shenjas krebskranken Vater in seinen letzten | |
Lebensjahren nicht allein lassen. Als Kind hatte der mit seiner Mutter, | |
Shenjas Großmutter, erlebt, wie alle anderen Familienmitglieder während der | |
Hungerblockade Leningrads durch die Deutschen umkamen. | |
Shenja kommentiert dies lapidar: „Solche Dinge können im Leben aller Völker | |
immer wieder geschehen. So ist nun einmal die menschliche Natur.“ | |
Deutsch sollten Elenas und Shenjas beiden Söhne, Boris, 15, und Mark, 10, | |
dann von Anfang an richtig lernen. Da boten sich der jüdische Kindergarten | |
und die jüdische Grundschule an. Der Große wechselte später aufs jüdische | |
Gymnasium. | |
„Wir hatten nicht vorausgesehen, dass wir uns damit auf ein traditionelles | |
jüdisches Leben zubewegen. Nicht dass wir uns dabei verbiegen, wir nehmen | |
auf, was uns ohnehin liegt“, sagt Shenja: „Wir selbst sehen am Sabbat nicht | |
mehr fern und benutzen keine elektronischen Geräte. Unseren Kindern haben | |
wir das nicht verboten, aber sie wissen, dass wir davon nicht begeistert | |
sind.“ Heute, meint er, genieße die ganze Familie diesen Tag zusammen. | |
Von unnötigen, gar ins Privatleben reichenden Verboten halten die | |
Shavranovs überhaupt nichts. Und damit liegen sie auf einer Welle mit ihren | |
SchicksalsgenossInnen aus der ehemaligen UdSSR. Was zum Beispiel die durch | |
ein Kölner Gerichtsurteil verbotene Beschneidung von Jungen im | |
Säuglingsalter betrifft, so haben sie sich bei ihren beiden Söhnen je nach | |
den Umständen entschieden, einmal dafür und einmal dagegen. Das Kölner | |
Urteil empört sie: „In unseren Augen ist die Beschneidung keine Verletzung, | |
wenn sie medizinisch korrekt durchgeführt wird. Und genau dafür zu sorgen, | |
wäre wirklich eine Aufgabe für den Staat. Wenn man aber so etwas ganz | |
verbietet, werden die Gläubigen versuchen, das Ritual heimlich zu | |
vollziehen. Und das könnte ein richtig großes Problem werden.“ | |
Die russischen Kulturveranstaltungen in der Berliner jüdischen Gemeinde | |
sind keine provinziellen Folkloreabende. Mal geht es da um die Verfolgung | |
regimekritischer JournalistInnen in der Russischen Föderation, mal schaut | |
ein russischer Regisseur von den benachbarten Filmfestpielen vorbei und | |
stellt auch hier seinen Beitrag vor. Doch trotz der progressiven Untertöne | |
locken diese Veranstaltungen eher die ältere Generation. Die Anteilnahme am | |
Schicksal ihrer alten Heimat erhitzt diese Leute wie ein Fieber. | |
## Die Oma war Partisanin | |
„Empathie“ ist es, wofür Regisseurin Mascha bei den Proben zu ihrem Stück | |
am meisten wirbt. „Wenn ihr im Stück über leidende Personen sprecht, „dann | |
denkt an konkrete Leiden. Zum Beispiel an euren Kollegen hier!“ Sie zeigt | |
auf einen schlanken jungen Mann mit blondem Pagenkopf. Der wird gerade von | |
einem heftigen Schnupfenanfall geschüttelt. „Timur Anatolevich Cutkov“, | |
stellt er sich später formvollendet vor. Auf den Vatersnamen „Anatolevich“ | |
legt der 27-jährige Bürokaufmann nun einmal Wert. | |
„Wo denken Sie hin, meine Oma war Partisanin“, antwortet er auf die Frage, | |
ob man ihn als Kind religiös erzogen habe: „Später in Berlin wollte meine | |
Mutter, dass ich meine Bar-Mizwa beging.“ Er sei froh, dass er durch den | |
Religionsunterricht in der Synagoge zum Glauben fand: „Dieser | |
Lebensabschnitt gewann für mich einen besonderen Glanz. Doch inzwischen | |
habe ich mein eigenes Gottesbild entwickelt.“ | |
Für Timur Anatolevich hat sich sein Traum verwirklicht, er wurde in eine | |
Berliner Schauspielschule aufgenommen. „Für mich ist Deutschland ein gutes | |
und gütiges Land“, sagt er: „Ich habe keine Heimat, aber Berlin ist für | |
mich ein Zuhause, von dem aus ich in die Welt hinausgehen kann.“ | |
Das Ende eines dreiseitigen Win-win-Spiels zeichnet sich ab. Gewonnen haben | |
Deutschland, die vom einst existenzbedrohlichen Mitgliederschwund | |
verschonten jüdischen Gemeinden und die Immigranten. Elena und Shenja, | |
Mascha und Timur haben es nicht nötig, sich selbst und anderen zu | |
versichern: „Alles wird gut.“ | |
16 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Barbara Kerneck | |
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