# taz.de -- Interview Jens Kerstan (Grüne): "So schlimm wie bei Schill" | |
> Hamburgs Parteien suchen verstärkt Kooperation statt Konfrontation. | |
> Grünen-Fraktionschef Jens Kerstan im taz-Interview über die Konsenssucht | |
> im Rathaus | |
Bild: "Dieser SPD fällt Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik leider sehr … | |
taz: Herr Kerstan, seit drei Monaten heißt die Grün-Alternative Liste (GAL) | |
nicht mehr GAL, sondern Bündnis 90/Die Grünen – Landesverband Hamburg. Was | |
hat sich seitdem an Ihrer Politik verbessert? | |
Jens Kerstan: Jetzt steht drauf, was auch drin ist. Wir sind keine Liste | |
mehr, sondern seit langem eine Partei. Das machen wir mit der Umbenennung | |
deutlich und nennen uns so wie alle Grünen in Deutschland. | |
Die Begründung auf dem Parteitag Ende April lautete: „Die Erfolgsmarke | |
heißt Grüne und nicht GAL.“ Also: Wo sind die Erfolge? | |
Am Kern von drei Jahrzehnten erfolgreicher grüner Politik ändert sich | |
nichts: Wir stehen für eine moderne Umwelt-, Energie- und Verkehrspolitik, | |
für Bildung, sozialen Zusammenhalt und eine starke Zivilgesellschaft ... | |
Okay, okay. Greifen wir den ersten Punkt heraus: Ökologie. Nach unserem | |
Eindruck hält der SPD-Senat Umweltpolitik für überflüssigen Klimbim. Da | |
müsste Ihnen das Opponieren doch leicht fallen.Warum merken wir davon | |
nichts? | |
Unter Bürgermeister Olaf Scholz ist Hamburg in der Tat vom Vorreiter zum | |
Bremser geworden. Umweltpolitik wird von der SPD abgewickelt. Die wollen | |
sich von uns abgrenzen, indem sie Ökologie zum Spinnkram und Luxus für | |
relativ gut verdienende Grün-Wähler erklären. Das ist eine Sichtweise aus | |
dem vorigen Jahrhundert, zukunftsfähig ist das nicht. | |
Die Frage war: Was tun die Grünen? | |
Unter diesem Senat werden alle Projekte eingestellt, die die Umweltqualität | |
in Hamburg verbessern würden. Die SPD will keine Stadtbahn, keine | |
Umweltzone, keine City-Maut. Im Energiebereich wird nur gemacht, was | |
Konzernen wie Vattenfall und Eon nutzt. Gegen diese Unterordnung unter den | |
Primat der Ökonomie werden wir als Grüne weiter klar und hartnäckig | |
opponieren und die besseren Lösungen aufzeigen. | |
2011 hatten Sie sich Hoffnungen auf eine Koalition mit der SPD gemacht. | |
Sind Sie heute heilfroh, dass das nicht geklappt hat? | |
Wir würden schon lieber mit der SPD zusammen eine bessere Zukunft für | |
Hamburg gestalten. In einer rot-grünen Koalition wäre Umweltpolitik ein | |
Schwerpunkt, dafür hätten wir schon gesorgt. Deshalb ist der jetzige | |
Zustand wirklich schlecht für Hamburg. | |
War das Desinteresse der SPD an ökologischen Fragen nicht abzusehen? | |
Diese Rolle rückwärts hat uns überrascht. Das hätten wir so nicht erwartet. | |
Diese Ignoranz ist in der Tat bestürzend. | |
Trotz dieser Differenz sind seit Jahresbeginn in der Bürgerschaft viele | |
Beschlüsse mit breiten Mehrheiten oder sogar einstimmig gefasst worden. | |
Gibt es im Rathaus eine neue Konsenssucht? | |
Nein. Aber sicher ist es so, dass wir nicht völlig ohne Grund mit der SPD | |
koalieren wollten. Da gibt es viele politische Schnittmengen. Und wenn die | |
SPD sinnvolle Dinge macht, unterstützen wir das natürlich. Andererseits | |
haben wir als Grüne in dieser Legislaturperiode schon zwei Mal das | |
Landesverfassungsgericht angerufen – wegen des Hapag-Lloyd-Deals und der | |
Geschäftsordnungstricks bei der Wahl des Rechnungshof-Präsidenten. | |
Aber beide Male erfolglos. | |
Ja, leider. In beiden Fällen hat die SPD ihre fragwürdigen Positionen | |
knallhart durchgezogen. Da war von Konsensbereitschaft nichts zu spüren. | |
Hier und auch an anderen Stellen erleben wir wieder die alte SPD, die | |
glaubt, dass die Stadt ihr gehört. Das werden wir nicht durchgehen lassen. | |
Es gibt also im Rathaus weder eine Einheitsliste noch Opposition um jeden | |
Preis? | |
Kerstan: Wir Grüne sind eine Partei, die in breiten Debattenprozessen | |
Positionen entwickelt und weiterträgt. Damit setzen wir die Regierenden | |
unter Druck. Und wenn wir sie dazu bringen, dass sie mal was richtig | |
machen, stimmen wir gern zu. Das ist keine Konsenssucht, sondern grüner | |
Gestaltungswille. | |
Aber die SPD regelt das ja in wechselnden Konstellationen: Schuldenbremse | |
mit Grünen und FDP, Nichtraucherschutz mit Linken und einigen | |
Christdemokraten – sind diese Kooperationen Versuche, die Opposition zu | |
spalten? | |
Mag sein. Die SPD ist taktisch versiert genug, sich Optionen zu eröffnen | |
für alle Fälle. Diese Partei und ihr Landesvorsitzender und Bürgermeister | |
sind vom Willen zum unbedingten Machterhalt getrieben. | |
Vielleicht will die SPD potenzielle Koalitionspartner für die nächste | |
Legislaturperiode schon mal anfüttern – ein Leckerli hier, ein Leckerli | |
dort? | |
Bei uns zumindest funktioniert das nicht. Wir stimmen dort zu, wo wir etwas | |
inhaltlich vertreten können. Sonst nicht. Offensichtlich ist allerdings, | |
dass die FDP sich als möglicher Koalitionspartner geradezu anbiedert. Die | |
wäre im Zweifelsfall für die SPD ein billiger Jakob. | |
Die FDP-Fraktionsvorsitzende Katja Suding sagte vor drei Wochen im | |
taz-Interview, sie könne sich nach der nächsten Wahl eine Koalition mit der | |
SPD vorstellen. Das wundert Sie dann nicht? | |
Nein. Das ist der verzweifelte Versuch der FDP, der Öffentlichkeit | |
einzureden, dass sie zu etwas nütze sein kann – als Steigbügelhalter für | |
Olaf Scholz. Ein eigenständiges politisches Profil kann ich da nicht | |
erkennen. | |
SPD-Fraktionschef Andreas Dressel bestritt vorige Woche an dieser Stelle, | |
auf Brautschau zu sein. Glauben Sie ihm das? | |
Das ist nur Show. In Wirklichkeit arbeitet die SPD daran, sich alle | |
Optionen offenzuhalten. Wir machen uns da jetzt keine Gedanken, sondern | |
versuchen, unsere Themen und Schwerpunkte durchzusetzen. Die eigene Linie | |
muss man klar und konsequent vertreten, alles andere hilft bei der SPD | |
nicht. | |
Klingt, als hätten Sie vor Ihrem geistigen Auge durchaus | |
Koalitionsszenarien nach der nächsten Wahl? | |
Ich halte nichts von Koalitionsspekulationen, aber auch nichts von | |
Ausschließeritis. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte dieser | |
Legislaturperiode hinter uns. Der nächste Wahlkampf kommt noch früh genug. | |
Dressel hat angeregt, die Arbeit der Härtefallkommission transparenter zu | |
machen. Was halten Sie von dem Vorschlag? | |
Das ist ein billiges Ablenkungsmanöver. In der Ausländerpolitik muss man | |
leider feststellen, dass es unter der absoluten SPD-Mehrheit so schlimm ist | |
wie vor zehn Jahren unter dem unseligen Rechtspopulisten Ronald Schill. Es | |
wird kein politischer Einfluss mehr auf die Ausländerbehörde genommen, in | |
Gremien wie dem Eingabenausschuss und der Härtefallkommission wird der | |
mögliche Ermessenspielraum zugunsten der Betroffenen überhaupt nicht mehr | |
genutzt. | |
Harte Worte. | |
Ich drücke mich sogar noch diplomatisch aus. Ich könnte auch sagen: Die SPD | |
zieht eine prinzipienstarre Linie der Behörde ohne Rücksicht auf | |
menschliche Schicksale durch. Die SPD hat eine große Angst vor | |
Präzedenzfällen, auf die sich später andere berufen könnten. Deshalb | |
votiert sie im Zweifel für Abschiebung. Dieser SPD fällt Menschlichkeit in | |
der Flüchtlingspolitik leider sehr schwer. | |
Immerhin hat Innensenator Michael Neumann im Mai den langjährigen Leiter | |
der Ausländerbehörde Ralph Bornhöft, für Flüchtlingsinitiativen ein | |
Feindbild, versetzt. Ist der Kurs dennoch nicht humaner geworden? | |
Bislang hat sich nichts zum Besseren gewendet. | |
Trotz Ihrer Skepsis: Wenn die SPD tatsächlich einen Gesetzesvorschlag zur | |
Lockerung der Vertraulichkeit der Härtefallkommission vorlegen würde, wären | |
Sie dann gesprächsbereit? | |
Dann würden wir natürlich darüber reden. Das grundlegende Problem aber ist, | |
dass die SPD nicht bereit ist, im Einzelfall Menschlichkeit walten zu | |
lassen. Da hilft Transparenz wenig. | |
Aber wenn die SPD so unmenschlich wäre, wie Sie das darstellen, müsste sie | |
doch Transparenz scheuen? Dann käme sie ja in Rechtfertigungsnöte? | |
Wenn mehr Transparenz dazu beitragen würde, den Druck auf die SPD zu | |
erhöhen, wäre das sinnvoll. Deshalb würden wir uns einer solchen Initiative | |
nicht verschließen. Das Allheilmittel aber kann das nicht sein. | |
In zweieinhalb Jahren sind schon wieder Bürgerschaftswahlen. Ihre Prognose? | |
Ach, die Umfragetrends wechseln so rasch, da ist auf so lange Sicht keine | |
seriöse Perspektive zu nennen. | |
Sie müssten sich eigentlich möglichst viele Fraktionen in der Bürgerschaft | |
– jetzt sind es fünf – wünschen, weil das die Wahrscheinlichkeit einer | |
erneuten absoluten Mehrheit der SPD mindert und die einer | |
Koalitionsregierung erhöht. | |
Die absolute Mehrheit muss fallen. Wir wollen so stark werden, dass wir | |
unabhängig vom Abschneiden von FDP, Linken und Piraten bei einer | |
Regierungsbildung nicht zu übergehen sind. | |
Würde es Ihnen wirklich gefallen, unter einem so dominanten Regierungschef | |
wie Olaf Scholz mitzuregieren? | |
Die beiden Koalitionen, die wir in Hamburg bislang eingegangen sind – | |
Rot-Grün und Schwarz-Grün – waren auch kein reines Vergnügen. Wir sind | |
hartes Verhandeln, aber auch Kompromisse und Kummer gewohnt. Das schreckt | |
uns nicht. | |
Und was machen Sie persönlich am 1. März 2015? | |
Da werde ich neue Büroräume suchen für eine nach der Wahl deutlich größere | |
Grünen-Fraktion. | |
26 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Sven-Michael Veit | |
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