| # taz.de -- Netzphilosoph zum Informationsüberfluss: „Netzwerke wissen es be… | |
| > Im Internet sind viel mehr Informationen als ein einzelner Mensch | |
| > erfassen kann. Das macht uns schlauer als jemals zuvor, sagt der | |
| > US-Netzphilosoph David Weinberger. | |
| Bild: Zu viel Input: Es stehen unfassbar große Mengen Information zur Verfügu… | |
| taz: Herr Weinberger, Sie reden von einer Krise des Wissens. Und doch | |
| stellt das Internet so viel Wissen zur Verfügung wie niemals zuvor. Warum | |
| macht es uns dann nicht auch schlauer? | |
| David Weinberger: Es macht uns schlauer. Aber ich glaube, wir leben eben | |
| auch in einer der großartigsten Epochen der Geschichte, um dumm zu sein. | |
| Das Internet ist ein fantastisches, noch nie da gewesenes Werkzeug für den | |
| Erwerb von Wissen. Doch Wissen hat sich durch das Internet verändert – so | |
| sehr, dass unsere alten Wissensinstitutionen … | |
| … also zum Beispiel Universitäten und Forschungsinstitute … | |
| … dass die einfach nicht mehr wissen, was sie damit anfangen sollen. Sie | |
| sind sehr schlecht darauf vorbereitet, mit dem Internet klarzukommen. Das | |
| ist die Krise, in der wir stecken. | |
| Warum hadern alte Wissensinstitutionen damit? | |
| Weil internetbasiertes Wissen so anders ist. Wissen war früher eine kleine | |
| Menge von Ideen, die als wahr galten und an die zu glauben als | |
| gerechtfertigt galt. In unserer westlichen Kultur war Wissen immer etwas, | |
| das gefiltert wurde. Das ist keine Eigenschaft des Wissens, sondern eine | |
| Eigenschaft des Mediums, auf dem Wissen traditionellerweise veröffentlicht | |
| wurde – Papier. Auf Papier konnten wir nur wenige Ideen publizieren, schon | |
| allein, weil der Platz in Bibliotheken und auf unseren Bücherregalen | |
| begrenzt ist. | |
| Jetzt steht uns mit dem Internet ein Medium mit unbegrenzter Kapazität zur | |
| Verfügung. Und das allein verändert das Wissen massiv. Es wird nicht mehr | |
| nur herausgefiltert und veröffentlicht, was als bekannt und gesichert gilt, | |
| sondern man hat ein Medium, das in seinem Platz unbegrenzt ist und das über | |
| Hyperlinks Informationen verkettet. | |
| Und wie genau ändert sich Ihrer Ansicht nach das Wissen durch das Netz? | |
| Im Internet lernt man, dass alles, was jemand glaubt, von jemand anderem | |
| angezweifelt werden kann. Das zu wissen, ist wirklich wichtig. Alles ist | |
| diskutabel. Wissen im Internetzeitalter ähnelt dem Wissen, wie es sich in | |
| den vergangenen hundert Jahren für Forscher schon immer dargestellt hat: Es | |
| gibt eine Hypothese, an die geglaubt und auf die reagiert wird – aber man | |
| ist sich bewusst, dass man sich irren kann. | |
| Wissen im Internetzeitalter besteht nicht aus einem Set an Fakten, die wie | |
| Ziegelsteine hingelegt werden, und wir können daraus eine Mauer hochziehen. | |
| Es ist ein Set von Links, von Verbindungen, das nur verknüpft einen Sinn | |
| ergibt – es ist viel kontextualisierter. All diese Links reflektieren die | |
| menschliche Natur viel besser als unsere alte Idee vom Wissen. | |
| Einen gesicherten Stand der Forschung, einen Kanon, auf den wir uns alle | |
| einigen können, gibt es Ihrer Ansicht nach gar nicht? Oder nicht mehr? | |
| Dass alle rationalen, vernünftigen Menschen sich eine Beweiskette | |
| anschauen, sich auf Rückschlüsse einigen und wir in Frieden und Harmonie | |
| zusammenleben – das ist eine zauberhafte Idee. Aber eine falsche, wie wir | |
| im Internetzeitalter erkennen können. Wir haben jetzt empirisch | |
| herausgefunden, dass mehr Wissen, mehr Informationen nicht dazu führen, | |
| dass wir uns einig sind. Im Gegenteil. Es entstehen Debatten. Und jetzt | |
| müssen wir herausfinden, welche Vorteile wir aus diesem Dissens ziehen | |
| können. | |
| Klingt ziemlich utopisch. Welchen Sinn ergibt es denn, sich mit einem | |
| Kreationisten über Evolution auseinanderzusetzen – dem geht es doch um | |
| Glaubensfragen, nicht um einen deliberativen Prozess! | |
| Bertrand Russel hat mal gesagt, dass man niemanden aus einer Position | |
| herausargumentiert bekommt, der nicht dort hineinargumentiert wurde. Wenn | |
| man also einen Kreationisten vor sich hat, der seine Überzeugung als | |
| Glaubensfrage betrachtet, kann man ihn nicht mit Argumenten davon | |
| überzeugen, dass er falsch liegt. Aber tatsächlich gehen Glaubensfragen | |
| weit darüber hinaus: Viele Dinge, die wir zu wissen meinen, glauben wir | |
| einfach. So sieht die Welt für uns aus. Das Framing, der Kontext ist zuerst | |
| da. Das war schon immer so – aber früher waren wir besser in der Lage, | |
| Stimmen, die unseren Ansichten widersprochen haben, zu marginalisieren. | |
| Das Internet versetzt Leute nun in die Lage, jederzeit andere Menschen zu | |
| finden, mit denen sie ihre krude Weltsicht teilen können. Dadurch werden | |
| sie in ihren Ansichten bestärkt und radikalisieren sich. Gleichzeitig hat | |
| das Internet eine lange Geschichte von Werkzeugen und Techniken, wie man | |
| einen fruchtbareren Diskurs führen kann. Und wie man auch bessere Filter | |
| entwickelt, um mit Überfluss an Informationen klarzukommen. | |
| Aber im Netz wird sich doch viel mehr beschimpft als fruchtbar diskutiert! | |
| Wir werden sicher niemals perfekt werden darin, offen für andere Positionen | |
| zu sein. Das ist kein menschlicher Fehler, sondern die Voraussetzung dafür, | |
| Verständnis für etwas zu entwickeln: Man hat einen Kontext von | |
| Glaubenssätzen, in den man neue Ideen einfügen kann. Darum benötigt | |
| Verständnis ein gewisses Maß an Engstirnigkeit. Trotzdem gibt es im Netz | |
| viele Hoffnungsschimmer – gute Diskussionsthreads oder Blogs, in denen | |
| Leute dann eben doch zu einer gemeinsamen Ansicht kommen oder jedenfalls | |
| zivilisiert streiten. | |
| Im Grunde geht es beim Thema Wissen im Internetzeitalter ja auch um | |
| Machtfragen, um Deutungshoheit. Verschieben sich alte Machtstrukturen | |
| gerade? | |
| Die alte Idee von intellektueller Führerschaft befindet sich auf dem | |
| absteigenden Ast. Dass es Expertenzentren gibt, die Wissen | |
| authentifizieren, und dass alles, was durch diese Filter zu uns vordringt, | |
| etwas ist, woran wir glauben sollten – diese Idee wird gerade einer | |
| radikalen Revision unterzogen. | |
| Denken Sie, man kann diese Beobachtung auch auf andere Bereiche übertragen? | |
| Von der Occupy-Bewegung bis zu Anonymous sehen wir ja überall | |
| Dezentralisierungstendenzen. | |
| Für mich ist die grundlegende Lehre, die man aus den Entwicklungen im Netz | |
| ziehen kann, dass Führerschaft nicht sonderlich gut skalierbar ist. | |
| Was heißt das? Dass sie mit schneller Vergrößerung nicht gut klarkommt? | |
| Das Internet konnte so groß werden, gerade weil es keine Führungsebene gibt | |
| – und nicht obwohl es keine gibt. Es gibt kein Management, das jemals | |
| darüber entschieden hätte, ob ein bestimmter Post erlaubt ist oder nicht. | |
| Welche Adresse jemand haben sollte und so weiter. Das Internet hat kein | |
| Zentrum – und darum konnte es so schnell wachsen. | |
| Die Occupy-Bewegung ist von Anfang an offensiv damit umgegangen, keine | |
| fertigen Lösungen für die Finanzkrise parat zu haben. Ist das auch eine | |
| Auswirkung von Überforderung durch Information – diesmal in der | |
| Offlinewelt? | |
| Das ist einerseits eine Variante, auf Informationsüberfluss zu reagieren – | |
| und andererseits ein realistischerer Zugang zu der menschlichen Kapazität, | |
| Dinge zu wissen. Es brauchte eigentlich gar nicht den | |
| Informationsüberfluss, den wir aktuell haben, um zu wissen, dass unser Kilo | |
| Gehirnmasse nicht in der Lage ist, die Welt und so komplexe Situationen wie | |
| die Bankenkrise zu erfassen. In gewisser Hinsicht wissen Netzwerke es | |
| besser als Individuen. Sie sind in der Lage, extrem groß zu werden und | |
| gigantische Mengen an Informationen aufzunehmen, statt sie, wie Individuen, | |
| ab einem bestimmten Punkt auszufiltern, um damit fertig zu werden. | |
| Wie könnte sich das auf politische und wirtschaftliche Führer in der | |
| Offlinewelt auswirken – auf ihre Wahrnehmung der Rolle? | |
| Es ist schwer zu wissen, was passiert, wenn Onlinewelt und die Offlinewelt | |
| sich kreuzen. Hierarchien funktionieren in Netzwerken nicht sonderlich gut. | |
| Darum scheitern Unternehmen ja auch immer, wenn es darum geht, wie sie mit | |
| Sozialen Medien umgehen: Sie fühlen sich häufig unwohl damit, dass ein | |
| Individuum für das Unternehmen spricht. Wenn das zum Beispiel jemand aus | |
| der Kundenbetreuung macht – auch wenn er am besten für diese Aufgabe | |
| geeignet ist –, ist das der Chefetage oft nicht geheuer, einfach weil er | |
| nicht am richtigen Punkt ihrer organisatorischen Hierarchie steht. | |
| Viele Daten und viel Austausch werden auf den Seiten großer | |
| profitorientierter Unternehmen wie Google oder Facebook gepostet oder | |
| gespeichert. Macht sie dieses Wissen übermächtig? | |
| Diejenigen, denen wichtige Daten, wichtiges Wissen gehört, sind in einer | |
| Position großer kultureller Bedeutung – und manchmal auch großer | |
| ökonomischer Bedeutung. Und sie können böse sein. Darüber sollte man sich | |
| Sorgen machen. | |
| Inwiefern? | |
| Als die Zeit gekommen war, dass man im Internet besser mit Dokumenten oder | |
| Seiten umgehen konnte, kam Tim Berners Lee und erfand das World Wide Web. | |
| Das hat er uns zur Verfügung gestellt – kostenlos. Ohne Copyright, ohne | |
| Eigentümerschaft. Dank dieser offenen Protokolle ist das Netz wie verrückt | |
| gewachsen. Wenn Sie etwas ins Netz stellen, dann gehört das niemandem. Das | |
| ist brillant. Aber als es darum ging, mehr über Menschen und ihre | |
| Verbindungen herauszufinden, haben wir einen fürchterlichen Fehler gemacht. | |
| Wir hatten damals keinen Tim Berners Lee, wir hatten eine Handvoll | |
| Unternehmen. Und ein unglaublich wertvolles System privater Beziehungen | |
| gehört heute einer Firma, die kommerzielle Interessen hat. Das ist | |
| potenziell ein Desaster. | |
| Finden Sie das nicht auch aus Datenschutzperspektive gruselig? | |
| Ich weiß, ich bin in dieser Frage naiv. Ich mache mir weniger Sorgen um die | |
| Privatsphären als die meisten anderen Menschen. Mir ist es egal, was | |
| Computer über mich wissen – solange die Eigentümer dieser Information damit | |
| nichts tun, das ich nicht mag. | |
| 7 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Meike Laaff | |
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