# taz.de -- DIE WAHRHEIT: Harthörige Mutter, Hartherzige Kasse | |
> Soeben lese ich in der Zeit: „Reiche leben länger.“ Selbstverständlich | |
> muss ich lachen, so etwas in einer Zeitung namens Zeit zu lesen. | |
Soeben lese ich in der Zeit: „Reiche leben länger.“ Selbstverständlich mu… | |
ich lachen, so etwas in einer Zeitung namens Zeit zu lesen. Das ist ja | |
immer die Frage, wie viel Zeit haben wir noch? Was bleibt uns noch für | |
Sünde und Sühne? Kann knapp werden! Bisher wusste ich jedenfalls nur: Arme | |
sterben früher. Und jetzt das! Nicht nur dass Arme früher sterben, Reiche | |
leben auch länger als eigentlich vorgesehen. Aber ab welchem Reichtum lohnt | |
das auch? Und zu welcher Kategorie gehöre ich? | |
Vor sechs Wochen noch empfand ich mich – subjektiv – als recht wohlhabend, | |
dann passierte diese Sache mit der Steuer, und jetzt bin ich – objektiv – | |
pleite. Was ist in diesen sechs Wochen mit meiner Lebenserwartung passiert? | |
Soll ich mich jetzt wieder hocharbeiten oder einfach hinlegen und sanft | |
entschlummern? | |
Kann ich mich auch drauf verlassen, dass das gut geht, egal für welche der | |
zwei Optionen ich mich entscheide? Die Statistik ermittelt ja einen | |
Mittelwert, also gibt es auch Reiche, die früh abnippeln, und Arme, die ihr | |
Armsein ein langes Leben lang beutelt. | |
Der Lebenserwartungsunterschied liegt für Männer bei elf Jahren, für Frauen | |
bei acht! Aus Frau von der Leyens Ministerium heißt es, die Statistik würde | |
falsch interpretiert. Der Trend zur höheren Lebenserwartung gehe durch alle | |
Altersgruppen. Das heißt aber nur, die Armen werden zwar auch etwas älter, | |
sterben trotzdem elf Jahre früher. | |
Und das ist kein Dreisatz! Es ist einfach so: Wer arm ist, dem geht es | |
nicht gut! Geldmangel, Erschöpfung und Zukunftssorgen verkürzen das Leben | |
erheblich, und Gesundheit ist in Deutschland nun mal eine Frage des Geldes | |
und das nicht erst, seit die Uni-Klinik Göttingen Organe meistbietend | |
verkauft. Da ist es nur mal aufgefallen. | |
Meine Mutter, eher arm und trotzdem über siebzig – da stimmt die Statistik | |
wieder nicht, die müsste gemessen am Einkommen längst tot sein –, würde | |
gern im Restleben mit der Welt kommunizieren. Meine 74-jährige Mutter | |
müsste nach diversen Hörstürzen operiert werden wegen hochgradiger | |
Schwerhörigkeit, um dann hoffentlich 50 Prozent ihres Hörvermögens | |
wiederzuerlangen. | |
Das verweigert die Krankenkasse unter anderem mit dem Hinweis aufs Alter | |
und erklärt, sie solle sich ein mit Hörgerät kombinierbares Mikrofon | |
kaufen, um Gesprächspartnern das Mikro hinzuhalten – wer aber meine Tante | |
Hannelore und meine Tante Ilsa kennt, weiß, dass das ein vergebliches | |
Unterfangen ist. Da hat die eine begonnen, ehe die andere geendet hat. | |
Meine Mutter geht gern zu Konzerten, von Hannes Wader und Reinhard Mey, | |
immer noch. Sie soll, so die Barmer Ersatzkasse, dort jeweils die Techniker | |
fragen, ob sie das Mikro am Bühnenrand platzieren dürfe. Hallo? Barmer? | |
Geht’s noch? | |
Wenn Sie also beim nächsten Wader- oder Mey-Konzert 40 Mikros am Bühnenrand | |
unten stehen sehen, wissen Sie, wie viel Barmer-Mitglieder mit Hörstürzen | |
im Publikum sitzen. Und Reiche leben nicht nur länger, die hören auch | |
länger zu! Aber für die hat Hannes Wader seine Lieder doch gar nicht | |
geschrieben. | |
10 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Bernd Gieseking | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |