# taz.de -- Wahl des Oberbürgermeisters: Rocky und die Stuttgarter Republik | |
> Hannes Rockenbauch, genannt „Rocky“, will Oberbürgermeister von Stuttgart | |
> werden. Es geht dabei nicht nur um den Bahnhof, aber auch. | |
Bild: Die Kandidaten für die OB-Wahl auf dem Stuttgarter CSD Ende Juli. Mitte:… | |
STUTTGART taz | Herbert’z Espressobar liegt direkt an der Kreuzung von | |
Mozart- und Immenhoferstraße. Morgens um halb zehn ist das Café so etwas | |
wie das Herz des Stuttgarter Heusteigviertels. Architekten, Werber, | |
Medienschaffende, Kriminalschriftsteller bestellen hier ihren ersten Latte | |
macchiato des Tages. Mit Butterbrezel. Das Grünen-Parteibüro ist in | |
Rufweite. Das Grünen-Verkehrsministerium auch. An einem Sommertag wie heute | |
stellt man sich draußen an die Straße und bespricht die Morgenweltlage – | |
Amtssprache ist ein mildes Honoratiorenschwäbisch. | |
Während die aufsteigende Sommersonne den Stuttgarter Kessel aufheizt, | |
schaut man den Autos aus heimischer Produktion nach, die vorbeicruisen. | |
Grade schleicht ein Porsche Cabrio um die Ecke. Ein mutmaßlich | |
Medienschaffender winkt und schreit Richtung Porsche, dass man doch längst | |
diesen Termin habe machen wollen. Der Cabrio-Fahrer greift sich an die | |
Sonnenbrille und ruft: „Ja, subbr“, er solle ihn anrufen. Der | |
Medienschaffende ruft, das werde er tun. Dann muss der Porsche weiter, weil | |
sich hinten etwas anstaut. | |
Die einen halten dieses Publikum für „alternativ“ und „progressiv“ und… | |
die Macher des Neuen. Die anderen halten es für unerträglich gentrifiziert, | |
selbstbezogen und im Kopf nicht aus. Jedenfalls kann es doch wohl nur eine | |
Antwort geben, wenn man sich fragt, was die wohl mehrheitlich wählen: Grün. | |
Oder? | |
Das wisse er nicht, sagt Hannes Rockenbauch vorsichtig, ob das | |
Grünen-Wähler seien. Seine Leute jedenfalls trinken ihren Latte da eher | |
nicht. Rockenbauch ist ein Protagonist der Bürgerbewegung Stuttgart 21 und | |
tritt am 7. Oktober bei der Wahl des Stuttgarter Oberbürgermeisters am. Er | |
wird es nicht werden, aber er kann die Wahl entscheiden. | |
Als Stadtrat des parteifreien Bündnisses Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS) | |
hat Rockenbauch ein Büro im Rathaus. Für Gespräche geht er lieber ein paar | |
Schritte raus. Aber nicht ins Sehen-und-Gesehen-werden-Café Scholz am | |
Marktplatz, sondern zu einem unscheinbaren Teil gegenüber vom Kaufhaus | |
Breuninger, wo man draußen sitzen kann. | |
## Ein junger Cohn-Bendit | |
Rockenbauch ist 32, hat letztes Jahr ein Studium der Architektur und | |
Stadtplanung abgeschlossen und wirkt seit acht Jahren im Stadtrat. Manche | |
nennen ihn „Rocky“, die Wochenzeitung kontext taufte ihn den „jungen | |
Cohn-Bendit“. Es ist unklar, ob das revolutionäre Verehrung oder Spott ist. | |
Oder nur auf seine rötlichen Haare anspielt. Über Stuttgart hinaus sichtbar | |
wurde er als Gesicht des Bürger-Widerstands gegen den Tiefbahnhof in Heiner | |
Geißlers live übertragener Schlichtung. Und nun kandidiert er als | |
Oberbürgermeister, um „den Aufbruch weiterzuentwickeln“. | |
Darum geht es auch bei dieser Wahl am 7. 10.: Ist die „Stuttgarter | |
Republik“, die Neu- oder Wiederpolitisierung von Teilen der Stuttgarter und | |
baden-württembergischen Gesellschaft, mit dem Volksentscheid für den Bau | |
des Verkehrs- und Immobilienprojekts Stuttgart 21 beendet – oder fängt | |
alles erst richtig an, und das über die Frage eines Bahnhofs hinaus? | |
Parteipolitisch geht es um die Frage, ob der Aufstieg der Grünen zur | |
führenden bürgerlichen Partei in den Städten Baden-Württembergs sich | |
fortsetzt – damit verbunden der Absturz der früheren | |
„Baden-Württemberg-Partei“ CDU. Nicht zu vergessen der Abstieg der SPD als | |
konkurrierendes Politik- und Gesellschaftsmodell. | |
## „Klein, aber nicht übel“ | |
Was die Stuttgarter Republik angeht, ist die Frage vor allem: Anfang oder | |
Ende – wofür stehen aus Sicht der Nicht-CDU-Wähler die Grünen? Klar ist, | |
dass Winfried Kretschmann durch den Protest gegen S 21 Ministerpräsident | |
wurde. Der grüne OB-Kandidat Fritz Kuhn muss es dagegen trotz S 21 in das | |
Amt schaffen, das gern als zweitwichtigstes des Bundeslandes bezeichnet | |
wird. Kuhn, Exvorsitzender der grünen Bundestagsfraktion, wird derzeit gern | |
„das kleinere Übel“ genannt. Er ließ zwar umgehend dementieren, er sei | |
„klein, aber nicht übel“, doch der Claim ist vielleicht gar nicht so | |
schlecht. | |
Das größere Übel ist in dieser Logik der parteilose Berliner Neupolitiker | |
Sebastian Turner, der von CDU, FDP und Freien Wählern unterstützt wird? | |
Eindeutig. „Ich will keinen Turner“, sagt Rockenbauch. In seinen Kreisen | |
wird der frühere Starwerber abwertend „Werbefuzzi“ genannt. Rockenbauch | |
nennt ihn „Verpackungskünstler“. | |
Aber gleichzeitig ist für die am Bahnhof Politisierten das Projekt | |
„kleineres Übel wählen“ abgehakt mit Kretschmanns veränderter Position n… | |
seinem Rollenwechsel. Rockenbauch ging nach dem Volksentscheid in die Villa | |
Reitzenstein hoch und fragte: „Was ist los, Winfried?“ Kretschmann habe | |
gesagt: „Weißt du, Hannes, es gibt nun mal kein Gesetz, dass es uns | |
verbietet, einen schlechten Bahnhof zu bauen.“ Der grüne Ministerpräsident | |
agiere nur noch wie „ein Verwaltungsbeamter, der Recht anwendet, statt als | |
Politiker Recht zu gestalten“. Er habe sich damit geschickt entkoppelt von | |
den Niederlagen im Kampf gegen den Tiefbahnhof. | |
## Dynamik weiterentwickeln | |
„Unheimlich clever“ sei das, aber der Preis, dass er sich und die Partei | |
damit auch von dem entkoppelt habe, was politisch in Stadt und Land an | |
Dynamik entstanden sei und weiter entstehe. Und diese Dynamik solle | |
weiterentwickelt werden und in partizipative Formen münden, um aus den | |
Stadtteilen heraus an der – ökosozialen – Stadtentwicklung mitzuwirken. Es | |
gehe um eine Verknüpfung von außerparlamentarischer und kommunaler Politik, | |
sagt Rockenbauch. Ansonsten sei es nur „Piratengedöns“. | |
Der Wechsel von der CDU zu den Grünen, zuerst die Mehrheitsfraktion im | |
Stuttgarter Rathaus, dann nach 58 Jahren Einzug in die Villa Reitzenstein, | |
war eine unglaubliche Entwicklung, aber aus Rockenbauchs Sicht | |
realpolitisch mit eher geringen Veränderungen verbunden. Für ihn stellt es | |
sich so dar, dass die Grünen zum Bewahren des Status quo neigen, sobald sie | |
irgendwo eine Mehrheit haben. | |
Die Frage ist: Was kann und was will Rockenbauch erreichen: Turner | |
verhindern? Die Grünen abstrafen? Oder am Ende die parteilose | |
SPD-Kandidatin Bettina Wilhelm als womöglich kleinstes Übel installieren? | |
Plant er einen Kuhhandel und tauscht im zweiten Wahlgang seine Wähler gegen | |
Zugeständnisse beim Bahnhofsprojekt? | |
„Ich werde keinen Kuhhandel machen“, sagt er. Erstens wolle er OB werden. | |
Zweitens werde er bei Rückzug keinesfalls für den zweiten Wahlgang eine | |
Wahlempfehlung aussprechen, wie es der grüne Kandidat Boris Palmer 2004 tat | |
– für den Amtsinhaber Wolfgang Schuster (CDU). Die anderen Kandidaten | |
könnten den Wählern dann ein Angebot machen. Er sei aber nicht „der | |
Unterhändler der Wähler“. | |
Wenn man ihn richtig versteht: Es geht nicht nur um den Bahnhof, aber es | |
geht auch nicht, dass die anderen den Bahnhof als erledigt abhaken. Wenn | |
Rockenbauch etwas nicht mehr hören kann, dann die grüne Sprachregelung vom | |
„kritisch-konstruktiven Begleiten“ des Projekts. Kandidat Kuhn, bekanntlich | |
ein großer Stratege vor dem Herrn, hat für sich eine Position entwickelt, | |
die ihn für weiche S-21-Gegner, aber auch für S-21-Befürworter wählbar | |
machen soll. | |
## Illusionist oder Verräter | |
Kuhn hat es aber auch wirklich nicht leicht beim Versuch, seine | |
Politkarriere zu runden: Er ist der einzige Parteipolitiker, was viel über | |
den Zustand von CDU und SPD sagt, aber derzeit nicht gut kommt. Würde er | |
den Bahnhof verhindern wollen, gälte er vielen als Illusionist, | |
andererseits rutscht er schnell in die Verräterecke. Er hat von Anfang an | |
auf jene Fehler spekuliert, die der Politneuling Turner aus Sicht seiner | |
Gegner nun gleich reihenweise abliefert. Aber das altbürgerliche | |
Wählerpotenzial wird auf 40 Prozent geschätzt und die Abneigung gegen Grüne | |
ist seit der Landtagswahl enorm. | |
Wenn Kuhn gewinnen will, muss er spätestens im zweiten Wahlgang am 21. 10. | |
als mutmaßlich seriösere, bürgerliche Alternative im Feindesland punkten. | |
Aber zunächst braucht er die Mehrheit im Anti-CDU-Milieu (geschätzte 50 | |
Prozent der Wähler), um vor Wilhelm und Rockenbauch in den mutmaßlich | |
entscheidenden zweiten Wahlgang zu kommen. Er darf sich also auch nicht zu | |
weit vorwagen, sonst bröckelt das mobilisierbare grüne Drittel der Wähler. | |
„Ich glaube, Kuhn macht die Künast“, sagt Rockenbauch. Im Gegensatz zu den | |
anderen dreien ist bei ihm nicht jedes Wort auf seine Wirkung in | |
verschiedenen Wählergruppen abgecheckt. Aber jetzt lauscht er dem Satz auf | |
sein Potenzial hinterher. Die Grüne Renate Künast war letztes Jahr in | |
Berlin abgestürzt beim Versuch, Regierende Bürgermeisterin zu werden. | |
Offenbar gefällt ihm der Vergleich, denn er wiederholt dann noch mal, dass | |
Kuhn aufpassen müsse, nicht die Künast zu machen. Jetzt bleibt ein Passant | |
stehen und sagt, er werde Rockenbauch wählen, und der bedankt sich mit | |
einem kräftigen „Oben bleiben!“. | |
Beim Zahlen stellt sich raus, dass ein Tässchen Cappuccino in diesem | |
Out-Café 3,40 Euro kostet. Wir sind hier in der Hauptstadt von | |
Baden-Württemberg, das sollte man nie vergessen. Es gibt viel zu klagen: | |
aber auf hohem Niveau. | |
19 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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