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# taz.de -- Touristen in Berlin: Täglich Love-Parade
> Sie fahren schlecht Rad und sind laut. Doch wir freuen uns über die
> fröhlichen, jungen Menschen, die Berlin toll finden.
Bild: Mit Mobiltelefon plus Hipstamatic-App flanierte Paul Langrock wie ein Tou…
Als wir im Görlitzer Park spazieren gehen, die jungen Leute beobachten, die
sich hier in Massen vergnügen, fragt mein Begleiter, der Soziologe: „Und wo
ist nun hier die Krise? Wo sind die Menschen, die unter der Krise darben?“
Das Gleiche hatte er schon oft über die Bergmannstraße in Kreuzberg
gefragt, in der sich mittlerweile über 500 Meter ein Café ans andere reiht.
Die jungen Leute, die stetig immer mehr werden auf der Straße, in den Cafés
und Kneipen, scheinen ihm ein Beleg dafür zu sein, dass die Rede vom
krisengeschüttelten Kapitalismus purer Alarmismus sei. Ich sage, dass die
Verelendeten vermutlich in ihren Wohnungen verkümmern und nicht mehr
rauskommen.
Was auch nur zum Teil stimmt: Die Zahl der Flaschensammler hat sich im
gleichen Umfang wie die Zahl der Touristen vermehrt, an jeder Ecke sieht
man Leute, die in Papierkörben nach Verwertbarem suchen, und an Wochenenden
oft Männer, die in touristischen Gegenden, komplett betrunken auf dem
Pflaster liegen.
## Schöne Tage in Kreuzberg
Später fällt mir ein, dass es sich bei den vielen jungen Leuten, die
offensichtlich gerade schöne, interessante Tage hier in Kreuzberg erlebten,
vor allem um Touristen handelt. Wobei die Unterschiede zwischen Berlinern,
Leuten, die hier studieren oder ein paar Jahre wohnen, Künstlern, die
stipendienhalber hier sind, und Neuberlinern aus Spanien, Italien,
Frankreich, Hannover, England, USA, Niedersachsen, Lateinamerika, Israel,
Frankreich usw. fließend sind.
Bis weit in die 90er Jahre hinein hatte man sich auch deshalb immer so sehr
auf die Loveparade gefreut, weil einem Berlin, verglichen mit anderen
Großstädten, immer so leer vorkam. Jenseits der Loveparade waren die
berühmten Clubs oft einsam und wurden nur durch die Einführung der
Billigflieger vor zehn oder zwölf Jahren gerettet. Die Immobilienblase in
Spanien hatte zu einem Anstieg spanischer Touristen geführt; die
Wirtschaftskrise führte zu einem vermehrten Zuzug vor allem junger Leute
aus Spanien.
Im Sommer sind die Straßen voll. Zu den traditionellen Kreuzberger
Sprachen, also Deutsch, Türkisch und Arabisch, haben sich Spanisch vor
allem, aber auch Englisch, Italienisch, Französisch und Englisch gesellt.
## Ich liebe fremde Sprachen
Neulich redete die Verkäuferin in der Bäckerei, in der ich dreimal die
Woche einkaufe, Englisch mit mir. Erst ärgerte ich mich ein bisschen, dass
sie mich nicht wiedererkannte, dann freute ich mich darüber, dass sie mich
für einen Touristen hielt, weil ich mir so für einen Augenblick vorstellen
konnte, nicht zu Hause im langweiligen Alltagstrott, sondern in einer
aufregenden fremden Stadt im Urlaub zu sein.
Es gefällt mir, draußen Kaffee zu trinken, wenn die Leute um mich herum
Spanisch sprechen; man kann sich viel besser konzentrieren, wenn die
anderen nicht die eigene Sprache sprechen. Und zu Hause höre ich ohnehin
gern den russischen Radiosender aus Berlin.
In manchen Berliner Gegenden konzentriert sich der Tourismus, in anderen
verläuft er sich. Der Schriftsteller Jan Peter Bremer, der am Mehringdamm
wohnt, einer von Touristen stark frequentieren Gegend, erzählte, es sei
manchmal, „als würde man sich in einen Demonstrationszug einreihen“, wenn
man aus dem Hause tritt.
## Die müssen Geld haben
V., ein polnischer Künstler, der näher am touristischen Zentrum Kreuzbergs,
im alten „36“ wohnt, fühlt sich durch die Touristen und Neuberliner
gestört. Er wohnt in der Reichenberger Straße, und vor allem empört es ihn,
dass an jeder Ecke dieser Straße diese neuen Leute Stretching machen.
Dieser Fitnesswahn sei „faschistoid“ - gesunder Geist, gesunder Körper.
„Die haben alle keine Manieren“ und lassen ihren Müll überall liegen. Und
weil die ganzen Touristen längst auch den Landwehrkanal für sich entdeckt
haben, könne man da nicht mehr hingehen, weil alles voll sei. Kurz:
„Kreuzberg ist für mich nicht mehr annehmbar.“
Als ehemaliger Gastronom ärgert er sich auch über die „von Amis“
betriebenen kleinen Kneipen, die immer leer sind. „Ich weiß, wie die Preise
sind. Die müssen Geld haben, um sich die Verluste leisten zu können", und
sie treiben so die Mieten in die Höhe. Ihm machte es wohl Spaß, sich in
eine antitouristische Schimpfrede hineinzusteigern.
Ich widerspreche; die meisten Touristen kommen mir gut erzogen, gut
aussehend und gut gekleidet vor. Allerdings lebe ich auch in einer
Kreuzberger Gegend, die noch nicht ganz so touristisch überlaufen ist, und
finde es höchstens seltsam, dass die durch die 1.-Mai-Krawalle berühmte
Skalitzer Straße an Wochenenden fast so voll ist wie die Khaosan-Road in
Bangkok. Aber auch toll!
Mit jedem Jahr, in dem die Zahl der Berlin-Besucher zugenommen hat, gefällt
mir die Stadt jedenfalls besser. Da ich in den 80er Jahren selbst
Berlin-Besucher, wenn auch in besetzten Häusern, und später auch mal auf
Mallorca im Urlaub war, kommt es mir absurd vor, wenn sich gerade Leute aus
der linken Szene, die wie ich irgendwann in den 80er Jahren nach Berlin
kamen, über Touristen beschweren. Wenn es sogar Cafés gibt, die
unterschiedliche Preise für Berliner und Touristen berechnen. Die machen
das, glaube ich, nur, weil sie sich neben den jungen Touristen plötzlich
alt vorkommen.
## Endlich was los
Es ist voller geworden, klar, aber es macht großen Spaß, am Abend zum
Beispiel verliebte Touristen zu beobachten, sich vorzustellen, wie viele
Berlin-Urlauber gerade so wunderschöne Tage hier erleben. Und wenn man sein
Feuerzeug zu Hause vergessen hat, findet man immer jemanden, der ein
Feuerzeug dabei hat.
S., die acht Jahre in Asien gelebt hat und gerade wieder zurückgekommen
ist, sieht es ähnlich. Das neue Berlin erscheint ihr viel schöner als das
Berlin, das sie damals verlassen hat. Nur der Loveparade trauert sie noch
ein bisschen nach.
25 Aug 2012
## AUTOREN
Detlef Kuhlbrodt
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