# taz.de -- DIE WAHRHEIT: Endstation Abstellgleis | |
> Ich mag keine Open-Air-Festivals. Worin das Vergnügen besteht, in | |
> knietiefem Schlamm zu zelten, tagelang mit apokalyptischem | |
> Schwermetallgetöse ... | |
Ich mag keine Open-Air-Festivals. Worin das Vergnügen besteht, in | |
knietiefem Schlamm zu zelten, tagelang mit apokalyptischem | |
Schwermetallgetöse beschallt zu werden und alle paar Stunden vor einer | |
Dixiklo-Batterie Schlange zu stehen, die auf einer Seuchenkarte der WHO mit | |
der Cholerastufe „Rot“ markiert wäre, ist mir seit jeher schleierhaft | |
gewesen. | |
Insofern war ich nicht traurig, dass mich ein Sprunggelenksdefekt | |
vorübergehend zur Benutzung von Krücken zwang, als Luis uns aufgeregt | |
erzählte, dass es „Rock an der Friedrichsaue“, das Festival seiner wilden | |
Jahre, nach 25 Jahren Pause wieder geben würde. „Wir müssen hinfahren!“, | |
sagte er, und Raimund und Theo riefen: „Yeah, yeah, yeah!“ Nur ich sagte: | |
„Sorry, Jungs, aber stundenlang vor einer Dixi … äh, Bühne stehen, geht | |
gerade gar nicht. Fahrt ohne mich und macht euch eine gute Zeit!“ | |
So leicht aber ließen sie mich nicht entwischen; schon brachte Theo den | |
alten Rollstuhl seines Opas Axel ins Spiel. „Und wie“, fragte ich, „soll | |
ich in einem Rollstuhl durch den Festivalschlamm gurken?“ Doch Luis | |
erklärte, dass es erstens bei „Rock an der Friedrichsaue“ noch nie geregnet | |
habe und ich zweitens ruhig mal auf meine Freunde vertrauen könne. „Zur | |
Not“, sagte er, „tragen wir dich auch von der Bühne zum Klo und zurück“, | |
und damit waren mir fürs Erste die Argumente ausgegangen. | |
Zwar unternahm ich weitere Fluchtversuche, erfand den 85. Geburtstag einer | |
steinreichen Erbtante und versuchte mir eine Sommergrippe zu holen, indem | |
ich mich stundenlang mit nassen Haaren vor einen Ventilator setzte. Aus | |
unerfindlichen Gründen aber blieb ich gesund, und Raimund meinte, es sei | |
völlig sinnlos, eine Tante, die ich noch nie erwähnt, geschweige denn | |
besucht hätte, jetzt plötzlich in erbschleicherischer Absicht mit einer | |
Geburtstagsvisite zu überraschen. | |
So saß ich eine Woche später in Opa Axels Rollstuhl und brauste mit den | |
anderen in einem Intercity Luis’ alter Heimat entgegen. Meine Freunde | |
trugen Lederjacken und Nieten-Armbänder, hatten ihr Resthaar wild zerzaust | |
und sprachen über Bands, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Ich | |
hingegen blinzelte aus dem Fenster, sah mich bereits bis zur Sitzfläche des | |
Rollstuhls in einem Matschloch versinken und schlummerte irgendwann ein. | |
Als ich erwachte, war es finster und still. Der Zug stand, der Waggon war | |
leer. Ich schaute hinaus, sah andere dunkle Waggons, fingerte nach meinem | |
Handy und schaltete es ein. Raimund hatte mehrere Nachrichten geschickt. | |
Ich rief ihn an. | |
„Endlich!“, sagte er: „Wo bist du?“ – „Das frage ich dich!“ – �… | |
anscheinend haben wir dich im Zug vergessen.“ – „Was?!“ – „Ich wei�… | |
nicht, wie das passieren konnte …“ Ich hörte es donnern. „Mist“, kräc… | |
er, „da kommt ein Gewitter, und unser Zelt steht immer noch nicht!“ | |
Es krachte wieder, pladderte und plästerte, dann brach die Verbindung ab. | |
Mein Akku war leer. Ich tastete nach der Tasche mit den Vorräten und | |
wusste, es gab Schlimmeres, als ein Wochenende auf einem Rangierbahnhof zu | |
verbringen. | |
28 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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