# taz.de -- Krise in Spanien: „Wir plündern den Supermarkt“ | |
> In Andalusien sind rund 350.000 Familien unterernährt. Und niemand tut | |
> etwas, bis auf die Gewerkschaft SAT. Sie greift jetzt zu drastischen | |
> Mitteln. | |
Bild: Spanischer Supermarkt: Einfach mitnehmen – ohne zu zahlen. | |
taz: Herr Sanz, Mitglieder der andalusischen Arbeitergewerkschaft SAT | |
nahmen Anfang August aus zwei großen Supermärkten Waren mit, ohne sie zu | |
bezahlen, und eine NGO verteilte sie an Bedürftige. Das hat in Spanien für | |
viel Aufmerksamkeit gesorgt. Warum greifen Sie zu solchen | |
Robin-Hood-Methoden? | |
Miguel Sanz: Weil es sonst keiner tut. Natürlich ist es eine symbolische | |
Aktion, mit der wir zeigen wollen, wie arm die 8-Millionen-Einwohner-Region | |
Andalusien ist. Während die gesamtspanische Erwerbslosenrate offiziell bei | |
rund 25 Prozent liegt, sind in Andalusien mehr als 33 Prozent ohne Arbeit – | |
und in Wahrheit sind die Zahlen noch höher, weil nach statistischen | |
Vorgaben etliche nicht mitgezählt werden. In manch ländlicher Region | |
Andalusiens ist sogar jeder Zweite ohne Arbeit. Wir erleben einen sozialen | |
Ausnahmezustand. Rund 350.000 Familien sind laut Caritas unterernährt. | |
Aber die Aktion kann ja nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Was | |
leitet sich an langfristiger politischer Strategie daraus ab? | |
Wir bitten nicht um das Recht, Essen kostenlos aus Supermärkten | |
heraustragen zu dürfen. Wir fordern ein Gesetz, um die | |
einkommensschwächsten Teile der Bevölkerung zu schützen. Mehr als 5,5 | |
Millionen Personen sind in Spanien arbeitslos. Viele von ihnen haben keinen | |
Anspruch auf die karge Sozialhilfe in Höhe von rund 400 Euro pro Monat. Und | |
selbst wenn, auch diese Hilfe ist zeitlich begrenzt. Das ist vollkommen | |
inakzeptabel. Wir brauchen ein grundsätzliches Recht auf Wohnraum, | |
Elektrizität, fließendes Wasser und Essen. | |
Wie kommen Ihre Aktionen in der Öffentlichkeit an? | |
Gut. Vor allem, weil nicht ein paar verrückte Linke oder junge Leute in die | |
Supermärkte rein sind, sondern ganz normale Leute: Maurer, Elektriker, | |
Lehrer. Die Supermarktenteignung lief landesweit durch alle Medien, wir | |
wurden zur besten Sendezeit ins Fernsehen eingeladen. Dort hat man | |
versucht, uns lächerlich zu machen oder zu kriminalisieren. Aber die | |
Zustimmungswerte für uns sind danach gestiegen. Man muss sich die Situation | |
in Andalusien vor Augen führen, die Unterernährung, aber auch, dass der | |
Großteil der rund 350 Zwangsräumungen, die es in Spanien täglich gibt, in | |
dieser Region stattfinden. | |
Die Immobilien- und Finanzkrise in Spanien hat zwei Seiten. Nicht nur die | |
Banken haben fleißig wahnwitzige Kredite vergeben, die Menschen haben sie | |
auch zu großen Risiken akzeptiert. | |
Ja, aber nicht unbedingt freiwillig. Bereits unter der Franco-Diktatur | |
haben die Regierungen einseitig den Kauf von Eigentum mithilfe von | |
Steuervergünstigungen gefördert. Spanien hat im Vergleich zu anderen | |
europäischen Ländern die teuersten Mieten, sie werden an keiner Stelle | |
reguliert. Überhaupt gibt es nirgendwo in der EU so wenig zu mieten wie | |
hier. Da ist es klar, dass die Leute Eigentum kaufen, wenn das zum Teil | |
sogar billiger oder eben genauso teuer ist, wie Wohnraum zu mieten. Aber | |
auch die EU trägt an der Situation keine kleine Verantwortung. | |
Inwiefern? | |
Spanien hat zwischen 2002 und 2007 mehr Wohnungen gebaut als Frankreich, | |
England und Deutschland zusammen. Das Geld kam vor allem von französischen | |
und deutschen Banken, die es lieber in der europäischen Peripherie angelegt | |
haben als bei sich zu Hause. Jetzt, wo die Immobilienblase geplatzt ist, | |
sollen Rettungsgelder der EU an die spanischen Banken fließen, damit die | |
ihre Schulden in Deutschland und Frankreich bezahlen können. Gleichzeitig | |
können die Banken säumige Schuldner einfach vor die Tür setzen, weil es bei | |
uns kein Recht auf Privatinsolvenz gibt. | |
Ihre Gewerkschaft hat mit mehreren Hundert Personen große Landgüter in den | |
Gegenden um die Städte Cádiz und Sevilla besetzt und begonnen, dort | |
Landwirtschaft zu betreiben. Was rechtfertigt Aktionsformen, die man in | |
Europa ja eher aus dem letzten Jahrhundert kennt? | |
Die anachronistische Landkonzentration in Andalusien. Dort besitzen 2 | |
Prozent der Bevölkerung die Hälfte der Anbauflächen. Darunter sind viele | |
adelige Großgrundbesitzer wie die Herzogin von Alba oder Mitglieder der | |
königlichen Familie, die das Land nicht bewirtschaften, während drumherum | |
in kleinen Dörfern die Hälfte der Bevölkerung arbeitslos ist. | |
Wollen Sie ernsthaft mit solchen Besetzungen die Versorgungslage der | |
Bevölkerung verbessern? | |
Nein, wir wissen, das ist unrealistisch. Aber auch hier streiten wir für | |
etwas Grundsätzliches. Wir haben zum Teil Fincas besetzt, die noch in | |
staatlicher Hand waren und privatisiert werden sollten. Wir wollen, dass | |
das Land in staatlicher Hand bleibt und für die Öffentlichkeit nutzbar | |
gemacht wird. Beispielsweise durch Agrarkooperativen. Und wir streiten für | |
Nahrungsmittelsouveränität. Obwohl wir in Andalusien viele Produkte anbauen | |
können, werden Nahrungsmittel importiert. | |
Aber nur von Landwirtschaft zu leben, ist auch keine Perspektive für eine | |
ganze Region. | |
Wir kämpfen seit Langem dafür, dass Andalusien wieder nachhaltig | |
industrialisiert wird. Bei uns sterben die Betriebe, von den Werften bis | |
hin zu den Autozulieferern für Renault in Sevilla. Wir brauchen eine | |
Entwicklungsperspektive für dieses Armenhaus Europas. | |
Noch ein Wort zur Strafverfolgung. Die Polizei wird ja angesichts Ihrer | |
Aktionen tätig geworden sein. | |
Ja. Wir haben in Andalusien rund 25.000 Mitglieder, mehrere Tausend von | |
ihnen mussten Geldstrafen wegen Aktionen bezahlen oder sehen sich mit einer | |
Anklage konfrontiert. Dreißig unserer Gewerkschaftsführer sind von | |
Haftstrafen bedroht. | |
Und wie finden die etablierteren Gewerkschaften Ihr Vorgehen? | |
Die Gewerkschaftsspitzen kritisieren uns. Aber an der Basis erfahren wir | |
viel Unterstützung. Mitglieder aus den anderen Gewerkschaften reihen sich | |
in unsere Demonstrationen ein, die wir in Andalusien seit mehreren Wochen | |
durchführen. | |
8 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
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