| # taz.de -- Karl Heinz Bohrers Jugenderinnerungen: Der gefährliche Augenblick | |
| > Kurz vor seinem 80. Geburtstag hat Karl Heinz Bohrer seine | |
| > Jugenderinnerungen vorgelegt: Im Granatsplitter liegt für ihn die | |
| > Faszination des Schreckens. | |
| Bild: Am 26. September feiert er seinen 80. Geburtstag: Karl Heinz Bohrer. | |
| An diesem Nachmittag im Juni dieses Jahres zeigt er sich konziliant, macht | |
| gute Miene auf der Bühne zu einem Programm, das ihm einen Ehrenplatz | |
| zuweist, wenngleich das Leitthema „Kulturen des Bruchs“ ihn zu | |
| entschiedenem Widerspruch gereizt haben muss. Warum den Bruch zu einer | |
| Kultur erheben? Wer wagt heute noch, mit seiner Peer Group, seinem Lager, | |
| seiner Herkunft zu brechen? | |
| Dabei verkörpert Karl Heinz Bohrer die Idee des Bruchs wie kein Zweiter, | |
| weil ihm die Freiheit und das Abenteuer des Denkens wichtig sind. Bohrer | |
| hat das Nachdenken über Literatur scharf gemacht, als FAZ-Literaturchef, | |
| als Literaturprofessor, schließlich viele Jahre lang als Herausgeber der | |
| Intellektuellenzeitschrift Merkur. Als Ästhetiker ist er ein | |
| Kampfmittelräumer. Die Schreckensfindlinge der modernen Literatur liebt er | |
| wegen ihrer Explosivität. | |
| Nun hat er, kurz vor dem 80. Geburtstag, ein Buch vorgelegt, das ganz | |
| anders daherkommt als die großen anderen. Im Untertitel nennt er es die | |
| „Erzählung einer Jugend“, ein Tonfall, der von fern an Heinrich Manns | |
| Autobiografie erinnert: „Ein Zeitalter wird besichtigt“. Hier ist es nicht | |
| das historische Zeitalter der Jahre zwischen 1939 und 1953, sondern die | |
| absolute Zeit des jungen Karl (nach dem Großen benannt, einmal wird der | |
| König und der Namenstag erwähnt), der in diesem Buch fast durchweg „der | |
| Junge“ genannt wird. | |
| Wie kommt es zu dieser Namenlosigkeit? Welche Perspektive nimmt der | |
| Erzähler ein, der in der Nachbemerkung ausdrücklich erwähnt, keine | |
| Autobiografie vorzulegen? „Der Junge“ steht für die Idee des Neuen, so | |
| unfertig, wie es in die Welt kommt. Der Blick des Jungen wirkt wie ein | |
| kultureller Seismograf für das Neue. Zugleich steht „der Junge“ für die | |
| distanziert-kluge Nähe eines fernen Vaters. So reden Eltern am späten Abend | |
| über das Kind, das vielleicht über die Stränge geschlagen ist. Bohrer | |
| erzählt aus der Perspektive eines Vaters seiner selbst. | |
| Die Granatsplitter regnen vom Himmel über Köln. Da ist der Junge sieben und | |
| wundert sich über das Fliegenkönnen. Die deutsche Flakabwehr schoss die | |
| Hälfte der alliierten Piloten ab. Die Luftabwehrgranaten, die ihr Ziel | |
| verfehlten, zerbarsten (ein Wort aus Bohrers Register der Plötzlichkeit) | |
| und regneten als Splitter über der Stadt ab. Es gab sie „in allen Größen, | |
| in allen Farben, keiner war wie der andere. An den Rändern waren sie | |
| aufgerissen, gezackt von unterschiedlicher Schärfe. Wenn man sie | |
| unvorsichtig anfasste, konnte man sich die Finger aufreißen. In dem Moment | |
| merkte man, dass die Steine nicht aus Stein waren, sondern aus Eisen, | |
| blitzende Metallstücke.“ | |
| ## Rechtgläubiger katholischer Outlaw | |
| Bald beginnt ein schwunghafter Tauschhandel unter den Jungen. „Die | |
| Granatsplitter waren das Schönste, was man sich ausdenken konnte.“ Sie | |
| feuern die Imagination des Jungen an, denn wie sonst wäre er auf die Idee | |
| gekommen, die vom Himmel fallenden Splitter seien von ihm ausgedacht | |
| worden? Dazu bestimmt, die „Feinde“ vom Himmel zu holen, gibt ihm das | |
| Rissige, Schrundige, Scharfe der Splitter eine Idee des Krieges. Ihr | |
| Funkeln war so völlig anders als der geschliffene glänzende Schmuck der | |
| Mutter. So formt sich im Jungen eine Keimzelle für die Faszination des | |
| Schreckens, ein Augenblick der reinen Gegenwart, der glücklichen | |
| Einbildungskraft, ganz auf den Augenblick eingestellt, zugleich befangen in | |
| einer Illusion des Glücks, das ihm der verfehlte Abschuss des Feindes | |
| zuteil werden lässt. | |
| Der Vater stammt aus einer großbürgerlichen Kaufmannsfamilie aus Besançon, | |
| die Mutter, schön wie Greta Garbo, und sie weiß das, aus eher kleinen | |
| Verhältnissen, Tochter des irischen Großvaters, der dem Jungen mit roter | |
| Feder am Hut imponiert, ein rechtgläubiger katholischer Outlaw (und | |
| glühender Monarchist). Dieser Großvater träumt davon, dass sein Enkel, | |
| inzwischen Messdiener, eines Tages Priester, wenn nicht Höheres würde. Die | |
| Vertikalspannung ist kaum zu übersehen. Kaum hat der Junge Gefallen am | |
| Gepränge der kirchlichen Riten gefunden, spielt er heimlich diesen Zauber | |
| auf dem Speicher im Haus der Großeltern nach, bis die Großmutter dem | |
| lästerlichen Treiben ein Ende setzt. | |
| Der Junge ist entzündbar. Eine Erregung jagt die nächste. Bald schlägt ihn | |
| ein Bilderbuch mit den altgriechischen Sagen in den Bann. Auf der Schule, | |
| inzwischen ist er auf dem humanistischen Gymnasium, werden die Atriden | |
| aufgeführt. Im antiken Schlachtfest spiegelt sich im Sommer 1944 die | |
| Hinrichtung der Attentäter des 20. Julis. Von einem holländischen | |
| Schulfreund weiß er schon von den KZs. Später erzählt der Vater dem noch | |
| nicht Zwölfjährigen, der Staat werde von Verbrechern geführt. | |
| Im Herbst 1944 schickt ihn der Vater zu den Großeltern aufs Land, in den | |
| Westerwald. Im Winter 1944/45 hört er in der Höhe die dröhnenden | |
| Fliegerverbände der Alliierten. Eines Tages stürzt in der Nachbarschaft | |
| eine „fliegende Festung“ ab. Dem Schrecken standzuhalten heißt, ihn in | |
| allen Einzelheiten zu beschreiben. | |
| ## Über Nacht kommt der Glaube abhanden | |
| Der Krieg ist schließlich vorbei. Vorbei ist auch die Liebe zur | |
| katholischen Kirche. Bei der Beichte will der Kaplan zu genau wissen, | |
| welche Sünden er begangen haben könnte. Über Nacht kommt ihm der Glaube an | |
| Gott abhanden. | |
| 1946 sieht er an einer Straßenecke ein großes Plakat, das er erst bei | |
| genauerem Hinsehen versteht: ein Foto aus dem Konzentrationslager | |
| Bergen-Belsen mit übereinander gehäuften nackten Leichen, ein Bild, das er | |
| sich so von der Zeit vor dem Frieden macht. Wenig später liest der | |
| Vierzehnjährige das Buch „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon, Gegengift gegen | |
| das Nichtwissenwollen, das die Zeit des „kommunikativen Beschweigens“ | |
| (Herrmann Lübbe) geprägt hat. | |
| Der Vater, als Volkswirt vertraut mit den Vordenkern der „sozialen | |
| Marktwirtschaft“, lässt den Jungen an Gesprächen mit internationalen | |
| Freunden teilhaben. Der frühen Einsicht in Politik und Ökonomie folgt die | |
| Freude an Syntax und Grammatik, ein erstaunliches Verständnis gedanklicher | |
| Ordnung für einen Vierzehnjährigen. Auf dem Birklehof, dem Internat des | |
| Bildungsreformers Georg Picht im Schwarzwald, begeistern den Jungen das | |
| Kurze und Knappe des Lateinischen und das Geheimnisvolle-Phantastische des | |
| Griechischen. Zu schaffen macht ihm im Kreis der Mitschüler sein Akzent, | |
| der rheinische Singsang, „der sich besonders dafür eignete, eine Frechheit | |
| auf die andere zu türmen“. | |
| ## Geimpfter vergleichender Blick | |
| Er entdeckt das Theaterspielen, das Hineinschlüpfen in Rollen, das | |
| Aussichherauskommen, eine träumerische Seite, die den nüchternen Vater | |
| besorgt, den Jungen aber begeistert und ihm eine imaginäre Welt erschließt, | |
| die nicht die Welt flieht, sondern sie anders auf die Probe stellt. Im | |
| Winter 1951 liest der Junge Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“, | |
| intellektuelle Prägung für einen Angehörigen dieser späten Kohorte der | |
| „skeptischen Generation“. Andere Leute wegen ihrer politischen Ansichten zu | |
| ermorden, das empört den Jungen. Die folgenden Bildungserlebnisse | |
| beherzigen den Imperativ Arthur Rimbauds „Il faut être absolument moderne!“ | |
| Besonders gefallen dem Jungen die Lakonie Ernest Hemingways, die | |
| Leichtigkeit eines beiläufigen Ernstes, an der jede Pose zerschellt. | |
| Was den Jungen zu Beginn auf dem Internat noch imponiert haben mag, hält | |
| dem so geimpften vergleichenden Blick nicht mehr stand. Im letzten | |
| Schuljahr vor dem Abitur taucht ein junger Lehrer auf, der schon Assistent | |
| bei Martin Heidegger in Freiburg ist und dessen „Holzwege“ ins Französische | |
| übersetzt hatte und der den Jungen auf Jean-Paul Sartre aufmerksam macht. | |
| Fünf Jahre nach der berühmten Inszenierung Jürgen Fehlings am Berliner | |
| Hebbeltheater entdeckt der Junge Sartres Drama „Die Fliegen“. In Berlin | |
| hatte diese Aufführung zum Aufruhr der Studenten geführt, die gegen das | |
| Besatzungsregime der russischen Befreier protestierten, unter ihnen der | |
| fünf Jahre ältere Klaus Heinrich, der damals zu den studentischen Gründern | |
| der Freien Universität gehörte. | |
| Im dritten Teil der „Granatsplitter“ reist der junge Student der | |
| Universität zu Köln als Erntehelfer nach Südengland, geht später, | |
| vermittelt durch das Landwirtschaftsministerium, als Gast eines | |
| Whitehall-Mandarins nach London. Diese Episode macht verständlich, was den | |
| Autor lebenslänglich am Vereinigten Königreich fesselt – eine subtile | |
| Liebeserklärung an ein Land, dem das Bewusstsein seiner Geschichte im | |
| Unterschied zum Nachkriegsdeutschland nie abhanden gekommen ist. | |
| Am 26. September feiert er seinen 80. Geburtstag. Schließen wir die | |
| Würdigung mit einem für das ästhetische Denken Karl Heinz Bohrers | |
| maßgeblichen Zitat Friedrich Nietzsches: „Was das Ahnen-machen betrifft: so | |
| nimmt hier unser Begriff ’Stil‘ seinen Ausgangspunkt. Vor allem kein | |
| Gedanke! Nichts ist kompromittierender als ein Gedanke! Sondern der Zustand | |
| vor dem Gedanken, das Gedräng der noch nicht geborenen Gedanken, das | |
| Versprechen zukünftiger Gedanken, die Welt, wie sie war, bevor Gott sie | |
| schuf – eine Rekrudeszenz des Chaos... Das Chaos macht ahnen...“ | |
| ## „Granatsplitter. Erzählung einer Jugend“. Hanser, München 2012, 320 | |
| Seiten 19,90 Euro | |
| 21 Sep 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Hans Hütt | |
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