# taz.de -- Prag mit Obdachlosen entdecken: Sehenswürdigkeiten eines Sammlers | |
> In Prag bieten Obdachlose Stadtführungen an. Statt klassischer | |
> Prachtbauten zeigen sie Besuchern ihre eigene Wirklichkeit der Stadt. | |
Bild: Hier kommen die Touristen nicht hin: Notunterkunft für Prager Obdachlose… | |
PRAG taz | Altpapiercontainer, ranzige Bahnhofskneipen, Busbahnhöfe: Wer | |
Honza Badalec als Stadtführer bucht, der lernt Prag von einer anderen Seite | |
kennen – aus der Sicht eines Obdachlosen. Der krausköpfige Mittfünfziger | |
ist einer von acht Guides der Organisation Pragulic. Das Konzept: Menschen, | |
die auf der Straße gelandet sind, führen Neugierige durch ihre Stadt. | |
Honza ist genau der Richtige, um mit Vorurteilen gegenüber Obdachlosen | |
aufzuräumen. Er liebt das Lesen – so steht es auch auf seinem knallroten | |
T-Shirt auf Englisch. Seine Tour beginnt er, indem er jeden seiner | |
Stadtführungsteilnehmer nach seinen literarischen Vorlieben fragt. Honza | |
strahlt, als Tourteilnehmerin Eva den Namen Václav Hrabě fallen lässt. | |
Nicht ohne Stolz rezitiert der Stadtführer beim Gang durch die Gassen des | |
Stadtviertels Žiźkovs Verse des tschechischen Vertreters der | |
Beat-Generation – eine Ode an das einstige Arbeiterviertel. | |
Früher war Honza in der Werbebranche tätig. Als vor zehn Jahren die Moldau | |
das Jahrhunderthochwasser nach Prag trug, ging sein bisheriges Leben den | |
Bach hinunter: 2002 verlor er Job, Heim, Frau und Kinder. Den genauen | |
Zusammenhang zwischen den beiden Katastrophen lässt der Obdachlose offen. | |
Nur so viel: Seine Frau sei damals mit seinem Buchhalter durchgebrannt. Und | |
damit habe der Abstieg begonnen. | |
## Bildung auf der Straße | |
Heute verdient Honza mit Büchern sein bescheidenes Einkommen. In | |
Müllcontainern sucht er nach weggeworfenen Bänden und verkauft sie an die | |
Antiquariate. „Bücher sind Spiegel der Gesellschaft“, setzt der | |
kleingewachsene Mann zu einer Sozialkritik an: „Gutenbergs Buchdruck hat | |
der Reformation den Weg bereitet, später wurden Bücher verboten und | |
verbrannt. Heute schmeißen Leute Bücher weg.“ Mit Ausführungen wie diesen | |
will Stadtführer Honza Badalec keinen Zweifel aufkommen lassen: Auch | |
gebildete Menschen landen auf der Straße. | |
Laut offiziellen Statistiken leben in Prag um die 4.000 Menschen ohne feste | |
Bleibe. Manche Hilfsorganisationen hingegen sprechen von über 10.000. Auch | |
im vergangenen Winter kamen mehrere Obdachlose im Frost ums Leben. Die | |
Stadtverwaltung wirkt angesichts der Probleme oft ratlos. Im Bemühen, den | |
Touristen eine malerische Altstadt zu präsentieren, werden Alkoholverbote | |
auf ausgewählten Plätzen ausgesprochen – um sich so der „Schandflecken“… | |
entledigen. | |
Pläne aus den Reihen der regierenden demokratischen Bürgerpartei, | |
Obdachlose in eine Zeltstadt in der Prager Peripherie abzuschieben, sorgten | |
vor den Kommunalwahlen 2010 für Schlagzeilen. Kritische Bürger und die | |
Opposition sprachen von einem Getto. Der Bau wurde verhindert. | |
## Ausgezeichnet | |
Die Situation der Obdachlosen in Prag sei noch immer ungeklärt, sagt Tereza | |
Jurečková. Sie ist einer der Köpfe hinter Pragulic und wie ihre zwei | |
Mitstreiter Studentin von der Prager Karls-Universität und knapp über 20 | |
Jahre alt. Mit ihrer Idee, Obdachlose als Stadtführer zu engagieren, | |
gewannen sie den Social Impact Award 2012 – eine internationale | |
Auszeichnung für neue Projekte im Bereich Social Business, verbunden mit | |
einem Startkapital von 1.500 Euro. | |
„Die Idee kam spontan“, sagt Jurečková. Erst später habe sie von ähnlic… | |
Projekten in London oder Utrecht erfahren. „Wir wollen die öffentliche | |
Meinung über Obdachlose ändern. Das sind nicht nur Leute, die besoffen im | |
Park liegen. Es gibt auch solche, die ihre Situation ändern möchten.“ | |
Das funktioniert: Viele tschechische Medien haben über die | |
Obdachlosentouren berichtet. Seit Mitte August finden die Rundgänge fast | |
täglich statt. Kostenpunkt: 200 Kronen (etwa 8 Euro). Die Hälfte davon geht | |
direkt an den Stadtführer. Das Team von Pragulic arbeitet bislang | |
ehrenamtlich – ebenso wie die Dolmetscher, die nach Absprache etwa ins | |
Deutsche übersetzen. Das soll sich, getreu den Regeln des Social Business, | |
ändern: Pragulic soll sich in Zukunft auch wirtschaftlich auszahlen, | |
zusätzlich zum sozialen Mehrwert. | |
## Etwas für die Gesellschaft tun | |
„Die Obdachlosen lieben es, ihre Geschichte zu erzählen“, sagt die | |
Studentin Tereza. Den Stadtführern tue zum einen nur der Nebenverdienst gut | |
– auch wenn etwa Honza bei bislang einer Tour pro Woche ein Monatslohn | |
bleibt, der jedoch unter dem tschechischen Existenzminimum liegt. Vor allem | |
aber sei das Gefühl, nach Jahren der Ausgrenzung etwas für die Gesellschaft | |
tun zu können, von unschätzbarem Wert, sagt Tereza. | |
Fast alle Stadtführer von Pragulic spielen in einem Obdachlosentheater mit. | |
Die meisten haben zumindest eine vorübergehende Bleibe gefunden. „Das ist | |
mein erster Arbeitsvertrag seit zehn Jahren“, sagt Honza, dem bei der Tour | |
durch Prag hin und wieder die Stimme versagt. Von seinem neuen Job | |
verspricht er sich, irgendwann nicht mehr auf die Gunst anderer angewiesen | |
zu sein. | |
Honza ist ein begnadeter Erzähler. Wenn er über sein eigenes Schicksal | |
berichtet, hängen ihm seine sechs „Kunden“ an den Lippen. „Das da hinten | |
ist der Tod der tschechischen Literatur!“, schreit er plötzlich, deutet auf | |
einen in den Boden eingelassenen Altpapiercontainer. Einen, an dessen | |
Inhalt Honza nicht mehr herankommt. Die Teilnehmer der Tour sind junge | |
Leute, vier Prager, zwei russische Touristinnen. Ergibt es Sinn, | |
Obdachlosen Geld zu geben?, fragen sie Honza. Nein, unterstützt lieber die | |
Hilfsorganisationen. Gibt es zu wenig Auffanglager? Im Winter ja. Aber | |
viele kommen mit dem Alkoholverbot nicht klar und bleiben draußen. | |
## Jenseits der Touristenpfade | |
Der zweifache Familienvater zieht einen Kinderrollkoffer hinter sich her. | |
Weil darin heute keine Bücher verstaut sind, gerät der auf dem | |
Kopfsteinpflaster ständig ins Trudeln. Die Fotoapparate der Teilnehmer | |
klicken, als der Obdachlose in einer blauen Altpapiertonne kramt. „Manchmal | |
sammle ich auch Flaschen, Klamotten, hin und wieder auch Essen“, sagt der | |
Reiseführer und blickt kurz verschämt zu Boden. | |
Die Pragulic-Führer stellen ihre Touren selbst zusammen, nachdem sie einige | |
Workshops durchlaufen haben. Wer beispielsweise mit Honzas Freundin Pavlína | |
aufbricht, der erfährt Kunsthistorisches zu den Bauten in der Stadt. Der | |
Tschechoperuaner José führt seine Gruppen durch die touristische | |
Innenstadt, immer auf der Spur seines persönlichen Schicksals. | |
Honzas Tour verläuft abseits der Touristenpfade, entlang seines | |
Sammleralltags. Erste Station: Busbahnhof. Er deutet auf eine | |
Gedenkplakette für neun Obdachlose und zwei Hunde, die hier beim Brand | |
ihrer provisorischen Bleibe starben. Dann nimmt Honza kurz Reißaus: Mit | |
entschlossenen Handgriffen holt er grinsend ein paar Kippenstummel aus dem | |
Aschefang eines öffentlichen Mülleimers und stopft sie sich in die | |
Westentaschen. | |
## Auf Pfandflaschen umsteigen | |
Am Masaryk-Bahnhof zeigt er, wo Obdachlose warten, um vergessene | |
Reisetaschen zu ergattern. Weiter geht es, vorbei an einer Imbissbude in | |
drei verstaubte Antiquariate, in denen Honza seine Buchfundstücke absetzt. | |
„Wenn sie etwas nicht abkaufen wollen, dann drohe ich damit, auf | |
Pfandflaschen umzusteigen“, sagt Honza. Sein Lachen, das kurz in ein | |
fröhliches Grunzen umschlägt, steckt an. | |
Das letzte Stück der Tour führt 300 Meter durch einen gekachelten | |
Fußgängertunnel. In den Fünfzigern wurde er als Schutz vor Luftangriffen | |
konzipiert. „Ein wichtiger Ort, vor allem im Winter“, sagt Honza. | |
Bei einem Bier in einer verrauchten Kneipe – nach Dienstschluss!, das kann | |
Honza nicht deutlich genug sagen – erschlafft das Dauergrinsen des | |
Obdachlosen. Am schlimmsten sei die Scham. Ein Jahr habe er wegen nicht | |
bezahlter Alimente im Knast gesessen. Jahrelang hätten ihn seine Kinder | |
verleugnet. Erst seitdem seine Tochter wieder den Kontakt mit ihm | |
aufgenommen hat, gehe es bergauf. Wer auf der Straße landet, erfinde oft | |
eine Geschichte, um sich vor sich selbst und der Gesellschaft zu | |
rechtfertigen. | |
Honza gibt gern seine einstigen Werbeslogans zum Besten, erzählt von seiner | |
Frau, die ihn schlug. „Wer weiß, vielleicht ist auch meine Geschichte | |
erfunden“, sagt der Obdachlose mit einem verschmitzten Lächeln und bläst | |
blauen Dunst in die stickige Kneipenluft. | |
24 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Martin Nejezchleba | |
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