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# taz.de -- Mensch und Natur: Getrennt gehen, vereint kämpfen
> Nicht nur braucht der Mensch die Natur, auch die Natur braucht den
> Menschen. Davon sind die beiden Botaniker Sarah Darwin und Johannes Vogel
> überzeugt.
Bild: Hach.
BERLIN taz | Hätten Harry Potter und seine Ginny plötzlich ein
Zauberschloss geerbt, würden sie dort wahrscheinlich genauso durch die Säle
des Naturkundemuseums schlendern wie Sarah Darwin und ihr Mann Johannes
Vogel in diesem Herbst. Dieses Paar ist allerdings schon Ende vierzig.
Er zum Beispiel kocht gern, bäckt manchmal sein eigenes Brot und findet,
das sähe man ihm inzwischen auch an. Zusammen verfügen beide in Berlin
außerdem über eine Privatwohnung. Erst im August ist sie, aus London
kommend, mit den zwei gemeinsamen Söhnen hierhin umgezogen und hat als
Erstes Topfpflanzen eingekauft.
Als Botaniker haben Darwin und Vogel nämlich promoviert, sie machten sich
aber im Zuge ihres Lebens auch immer mehr Gedanken über die Tierwelt
mitsamt uns Menschen. Obwohl sie beruflich nicht zusammenarbeiten, kämpfen
beide für den Erhalt der Biodiversität auf dieser Erde und setzen dabei in
einem für die Wissenschaft neuen Ausmaß auf Graswurzelinitiativen.
Bei allen ErdenbewohnerInnen das Wissen um die Bedeutung der Artenvielfalt
zu fördern und die Bereitschaft, sich dafür einzusetzen, darin besteht
Professor Johannes Vogel zufolge die künftige Hauptaufgabe der großen
Naturkundemuseen.
## Spinnen in Spiritus
Seit dem Frühjahr ist er nun Generaldirektor dieses Berliner Hauses und
konstatiert: „Noch täglich öffnen sich für mich hier unbekannte Türen. Ei…
Wunderkammer!“ Und, ist hinzuzufügen, ein schaurig-schönes Gruselschloss.
In der „Nasssammlung“ bergen gläserne Vitrinen meterhohe Einmachgläser mit
in Spiritus eingelegten Spinnen, Seesternen und Schlangen.
Im nächsten Saal beeindruckt eine fein geschnitzte, hellgrün und rosa
bemalte Kassettendecke. Doch ihr Pendant wenige Türen weiter schlägt Blasen
wie eiternde Haut, dunkle Löcher führen hinauf ins unbekannte Darüber.
Jüngst wurde der Ostflügel saniert. „Aber wir bräuchten noch 400 Millionen
Euro, um dieses Gebäude zu renovieren“, sagt Vogel: „Mit 13,5 Millionen
Euro haben wir den geringsten Grundetat von allen Naturkundemuseen in der
westlichen Welt. Wir bräuchten etwa viermal so viel.“ Er weiß, wovon er
spricht, ab 2004 war er Chefkurator am Natural History Museum, London.
Sarah Darwin legte im Jahre 2009, während ihrer Doktorarbeit über die
Galapagos-Tomate, gleich noch so etwas wie eine Magisterprüfung in
Zauberkunst ab. Im Rahmen eines Wettbewerbs zur akustischen
Wachstumsförderung ließ sich die bereits zweifache Mutter dazu hinreißen,
einer solchen Tomatenpflanze aus dem Hauptwerk ihres Ururgroßvaters Charles
Darwin vorzulesen: „Die Entstehung der Arten“.
## Die Kunst brachte sie auf die Tomate
Das Grünzeug schoss mit ungeahnter Schnelligkeit in die Höhe, und Sarah
Darwin gewann den ersten Preis. War dieser Versuch nun wissenschaftlich?
Die Botanikerin kichert: „Für den nächsten würde ich ein paar Tomatenstöc…
mehr empfehlen!“ Heute ist sie Botschafterin des Galapagos Conservation
Trust.
Eigentlich war es die Kunst, die sie auf die Tomate brachte. Sie begann als
Malerin von Wandfresken, illustrierte dann ein Botanikbuch mit Zeichnungen
der Pflanzen auf Galapagos und begriff, dass die dort heimische Tomatenart
bedroht war. Daraus folgerten ein akademisches Forschungsprojekt und
schließlich die Dissertation. „Alles aus purer Neugierde“, betont Sarah
Darwin. „Mit meinem Ururgroßvater hatte das erst mal gar nichts zu tun.“
Für den Tabubrecher Charles Darwin (1809–1882) hegt Sarah dennoch eine
deutliche Schwäche. Erst während des Studiums erkannte sie seine Bedeutung.
Mit seiner These, der Mensch habe sich gemeinsam mit allen anderen
Lebewesen durch natürliche Selektion aus einer einzigen Urform entwickelt,
brachte er die Vorstellung von der „Krone der Schöpfung“ ins Wanken. Und
die wichtigsten Erkenntnisse auf dem Wege dorthin gewann er während einer
Weltreise, auf den Galapagos-Inseln.
## Ein Miteinander von Mensch und Wildnis
Die Rolle des Menschen in der Evolution für sich ganz neu zu definieren,
darauf kam Darwins geistige Erbin dann nach ihrer Dissertation. Damals
legte sie mit ihrem Bruder an Bord eines Segelschiffes ab, um diese
historische Reise Charles Darwins auf der „Beagle“ nachzuvollziehen.
1831 empfand der junge Theologiestudent die südamerikanischen Küsten als
heftigen Angriff auf seine Sinne. Er erlebte erstmals ein intensives
Miteinander von Menschen und Wildnis. Sarah erwartete Ähnliches. Doch sie
musste erfahren, um wie viel weniger heute jene Natur waltet, in der
Charles Darwin seine Gesetze entdeckte. In einem ihrer Vorträge, diesmal im
holländischen Fernsehen, erzählte sie: „Ich fand an diesen Küsten vor
Benzin stinkende Betonstädte vor, in denen die Leute keine Pflanzen
erblickten und fast kein Vogel mehr flog.“
Das Gegenteil erfuhr sie dann auf Feuerland: „Vom Indianerstamm der Yamana,
den Darwin dort beschrieben hatte, lebte als letzte nur eine einzige, arme
Frau. In dieser unberührten Natur wirkte das Fehlen des Menschen auf mich
irgendwie unheimlich. Die Quintessenz von Sarah Darwins Erfahrungen, die
sie jetzt mit Vorträgen in aller Welt verbreitet: „Nicht nur braucht der
Mensch die Natur, auch die Natur braucht den Menschen!“
## Bewahren oder zeigen?
„Heutige Kinder haben nur noch halb so viel Kontakt mit der Natur wie die
Kinder vor 50 Jahren“, sagt sie. „Die Statistik lehrt, dass in der Natur
aufwachsende Menschen gesünder sind. Später neigen sie mehr dazu, Natur zu
hegen, zum Beispiel Bäume zu pflanzen oder zu betreuen.“
„Wir sind Überzeugungstäter. Wir wollen die Welt verändern – wenigstens …
bisschen“, beantwortet Johannes Vogel die Frage nach Gemeinsamkeiten
zwischen ihm und seiner Frau. „Und außerdem: na klar, der Humor!“ Offenbar
nicht ganz ernst gemeint sind auch seine Antworten auf die Fragen nach
seiner Lieblingspflanze und seinem Lieblingstier: „Die Tomate, natürlich“,
sagt er und grinst: „und der Archaeopteryx.“
Dieser 150 Millionen Jahre alte und 1861 in Solnhofen entdeckte Kalkabdruck
eines geflügelten Reptils führte zum Streit zwischen den forschenden
Wissenschaftlern und Ausstellungsmachern im Museum. Die einen wollten das
wertvolle Stück vor Licht schützen, die anderen ausstellen.
Die Lösung brachte vor fünf Jahren ein „öffentlicher Tresor“. Nun schwebt
das Original in einer Nische hinter einer strahlungsabsorbierenden
Glasscheibe. Wünscht ein Forscher direkten Zugang, schließt ihn zum Saal
hin eine hydraulische Tür in der Nische ein, und die Scheibe geht hoch.
## Das Mitmach-Museum
Zugang zu schaffen, auch für das Publikum, dies war die architektonische
Grundidee des Berliner Naturkundemuseums im 19. Jahrhundert. „Und deshalb
sind von diesen beiden Treppenhäusern aus alle wichtigen Sammlungen
erreichbar, deshalb sollten sie in von allen Seiten umgehbaren Glasvitrinen
stehen“, erklärt Vogel, während er die Stufen nimmt: „Diese Intention ist
hier dann nie realisiert worden. Aber jetzt ist es so weit – im 21.
Jahrhundert ermöglicht uns die alte Architektur des Hauses ein gläsernes,
ein Mitmach-Museum zu realisieren.“
Johannes Vogel war als Jugendlicher selbst Hobbyforscher. Er bestimmte alle
Pflanzen rund um seine Heimatstadt Bielefeld und trat mit dreizehn Jahren
dem dortigen Naturwissenschaftlichen Verein bei. In solchen Gesellschaften
steckt seiner Ansicht nach heute noch der größte Teil des Spezialwissens,
gerade über Insekten und kleine Pflanzen. Für engagierte Laien soll nun das
Museum als Anlaufstelle geöffnet werden.
Eng mit diesem Konzept verbunden ist der Plan, in verschiedenen
Weltregionen „gläserne Fabriken“ zur genetischen Bestimmung der Arten zu
schaffen. In einem aufsehenerregenden Aufruf erklärten zu Beginn dieses
Jahres 39 Wissenschaftler, darunter Johannes Vogel, in der Londoner
Fachpublikation Systematics in Biodiversity, dass von schätzungsweise 12
Millionen auf der Erde existierender Tier- und Pflanzenarten erst etwa 2
Millionen bekannt sind.
Um dem rasanten Artensterben zuvorzukommen, sollte der Rest während der
kommenden 50 Jahren klassifiziert werden, und zwar in speziellen
Einrichtungen, in denen Roboter so etwas wie genetische Strichcodes aller
Lebewesen bestimmen. All dies natürlich in enger Zusammenarbeit mit
Naturkundemuseen.
## Der Missing Link
Johannes Vogels Magierbegabung für Zeitreisen sticht nicht weniger ins Auge
als sein Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart. Mühelos zoomt er sich ein paar
Millionen Jahre zurück oder um 50 Jahre in die Zukunft. Und dieser Bart,
den Sarah Darwin als „kitzlig“ empfindet? Ist der eine aussterbende Spezies
aus dem 19. Jahrhundert? Da hat der Generaldirektor keine fertige Antwort.
Nach langem Nachdenken sagt er ernst: „Ich habe in zwei Lebensphasen meine
nackte Oberlippe ertragen. Das reicht.“
Und somit vollzieht sich das Leben des Ehepaares Darwin/ Vogel mit
Schnurrbart und in konzentrischen Kristallsphären. Sarah zirkuliert in der
Welt – mit Vorträgen über die Aufgabe des Menschen in der Natur. Von dort
aus blickt sie durch gläserne Wände in Innere des Museums. In dessen Herzen
thront in seinem Schrein der märchenhafte Archaeopteryx.
Dieses Fossil war der Missing Link, der fehlende materielle Beweis für die
Evolutionstheorie Charles Darwins. Der hat den Fund noch erlebt. Mit dem
Hochmut wirklich kluger Leute verzichtete er auf jeden Kommentar.
Strahlenförmig umgeben das Skelett die Abdrücke langer, sehr feiner,
reiherartiger Federn. Wenn der Generaldirektor ihn als sein Lieblingstier
bezeichnet, kann er es doch ernst meinen. Jener Vogel war bezaubernd.
27 Sep 2012
## AUTOREN
Barbara Kerneck
## TAGS
Galapagos
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