# taz.de -- Schwierige Geschichte: Der lange Weg zum Gedenken | |
> In einem Wald am Russee bei Kiel erinnern Tafeln und ein Gedenkstein an | |
> das "Arbeitserziehungslagers Nordmark". | |
Bild: Steht seit 2003: Gedenkstein auf dem Gelände des ehemaligen Arbeitserzie… | |
KIEL taz | Im Kieler Ortsteil Russee, wo die Stadt langsam ausläuft, kommt | |
ein schmaler Weg, der über eine Wiese in Richtung des Russees führt und | |
weiter an dessen leicht bewaldetem Ufer. Und da stehen sie: drei | |
Stelltafeln, die sich ganz leicht neigen, und ein Stein mit Namen, umgeben | |
von Buchen und Erlen. Hier also stand das „Arbeitserziehungslager | |
Nordmark“, wohin die Gestapo vom Frühjahr 1944 bis Anfang Mai 1945 | |
Zwangsarbeiter und auch Zivilarbeiter verschleppte, die angeblich nicht | |
ordentlich schufteten oder sich der Arbeit verweigerten, zu der man sie | |
zwingen wollte. | |
Die in Russee untergebrachten Häftlinge, mehrheitlich Zwangsarbeiter aus | |
Polen und der Sowjetunion, wurden in der zunehmend zerstörten Kieler | |
Innenstadt zum Abtragen der Ruinen und zum Bergen der Blindgänger | |
gezwungen. Doch auch örtliche Firmen profitierten von ihrer Arbeitskraft: | |
unter anderem die Holsten-Brauerei, das Betonbauunternehmen Ohle und | |
Lovisa, die Nordland Fisch-Fabrik. | |
## Zu Tode geprügelt | |
4.000 bis 5.000 Häftlinge sollen insgesamt in Russee gewesen sein. Mehr als | |
550 von ihnen sind nachweislich ums Leben gekommen: hingerichtet, | |
erschossen, zu Tode geprügelt. „Wenn ich nicht arbeitete und in meinem Haus | |
war, konnte ich sehen wie die Häftlinge von der Wachmannschaft des Lagers | |
von morgens bis abends verprügelt wurden“, sagte ein Anwohner später den | |
britischen Ermittlern. Als die britische Armee Anfang Mai 1945 in Kiel | |
einrückte und auch in Russee vorbeikam, entdeckte sie in dem von den | |
Wachmannschaften aufgegebenen Lager Hunderte von halbverhungerten | |
Häftlingen. | |
Die britischen Behörden waren in den kommenden zwei Jahren sehr darauf | |
bedacht, die Verantwortlichen zu ermitteln, zu verhaften und auch | |
abzuurteilen. So findet im Curio-Haus im Schatten der Hamburger Universität | |
im Jahre 1947 nicht nur der Prozess gegen die Lagerleitung und die | |
Wachmannschaften des KZ Neuengamme statt, sondern auch gegen die | |
Verantwortlichen des Arbeitserziehungslagers Nordmark. | |
## Justiz hat keine Eile | |
Zum Tode verurteilt und hingerichtet werden der Lagerkommandant Johannes | |
Post und der Lagerleiter Otto Baumann. Andere erhalten zwar langjährige | |
Freiheitsstrafen, werden aber bald entlassen. Denn schnell übernimmt die | |
deutsche, im konkreten Fall die Kieler Justiz. Die aber hat es nicht eilig, | |
weitere Täter zu ermitteln, zu befragen und vor Gericht zu stellen. | |
Symptomatisch ist das Vorgehen gegen den Kieler Gestapochef Fritz Schmidt, | |
dem das gesamte Personal des Arbeitserziehungslagers Russee unterstand: | |
Erst 1963, nachdem Schmidt für den Bremer Senat und vermutlich auch für den | |
Bundesnachrichtendienst gearbeitet hatte, wird er in Untersuchungshaft | |
genommen und vor Gericht gestellt. Die zwei Jahre Haft, zu denen er | |
verurteilt wird, werden mit der Untersuchungshaft abgegolten. Auch die | |
Wachmannschaften kommen weitgehend ungeschoren davon. | |
In Russee selbst wurden nach der Befreiung in den Baracken erst Displaced | |
Persons untergebracht, dann Vertriebene aus den sogenannten Ostgebieten. | |
Als der Flüchtlingszuzug langsam abebbt, werden die Holzbaracken nach und | |
nach abgerissen und das Gelände großflächig in einen Gewerbepark | |
umgewandelt. | |
Nur das Fundament des einstigen Gästehauses der SS, einer der wenigen | |
Steinbauten, ist heute noch zu sehen. Auch wenn sich nach den bisherigen | |
Forschungen dort wohl nie irgendwelche überregionalen SS-Größen oder | |
Nazi-Schergen daufhielten, ist es doch eine merkwürdige Fügung, dass allein | |
von diesem Gebäude noch Spuren erhalten geblieben sind. | |
Dass es diesen Gedenkort überhaupt gibt, ist das Resultat eines | |
jahrzehntelangen Bemühens verschiedener Kieler Gruppen, den Ort nicht ganz | |
dem Vergessen zu übereignen. Zwar hat es in den unmittelbaren | |
Nachkriegsmonaten einen ersten Gedenkstein gegeben. So weit man bisher | |
weiß, wurde er 1946 oder 1947 von ehemaligen polnischen Zwangsarbeitern | |
errichtet. | |
Warum er wieder verschwand, ist nicht bekannt – als Mitte der 1960er-Jahre | |
kirchliche Kreise einen Gedenkort für Russee fordern, schweigen sich die | |
Verantwortlichen der Stadt aus. Erst als Ende der 1980er-Jahre gegen einen | |
Kieler Gestapo-Beamten ein letztes großes Verfahren eröffnet wird, rückt | |
auch das ehemalige Arbeitserziehungslager wieder ins Bewusstsein. Keine der | |
in der Kieler Ratsversammlung vertretenen Parteien ist gegen eine mögliche | |
Gedenkstätte – aber auch nicht wirklich dafür. Als die Grünen in die | |
Ratsversammlung einziehen, gibt es die nächsten Impulse. So folgt ein | |
fraktionsübergreifenden Antrag in der Kieler Ratsversammlung, in Russee ein | |
Dokumentationszentrum zu errichten. Alle stimmen zu – doch nichts passiert. | |
Erst als Ende 2000 die Reste des ersten Gedenksteins entdeckt werden, wird | |
die Stadt tätig und bittet den Arbeitskreis zur Erforschung des | |
Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein (Akens), EU-Mittel einzuwerben, | |
damit in Russee ein Gedenkort errichtet werden kann. Die Stadt gibt ihren | |
Anteil dazu, die Pflege des Ortes übernimmt fortan das örtliche | |
Gartenbauamt. Zur Einweihung am 27. Januar 2003, dem Holocaust-Gedenktag, | |
kommen städtische Repräsentanten vorbei. Das ist es dann – bis zum nächsten | |
27. Januar. | |
## Kiel war Gauhauptstadt | |
Bis heute gibt es in Kiel keinen zentralen Gedenk- oder Dokumentationsort, | |
der über die Zeit des Nationalsozialismus, seine Vorgeschichte und die | |
spätere, verschleppte Aufarbeitung informiert. Auch das Stadtmuseum bietet | |
keine ständige Ausstellung zu diesem Themenkomplex an. „Dabei war Kiel doch | |
Gauhauptstadt“, spottet Eckhard Colmorgen von Akens. Nach seiner Meinung | |
könnte das sehr zögerliche Agieren der Stadt mit der engen Anbindung an die | |
örtliche Rüstungsindustrie zu tun haben– die noch einmal Thema werden | |
würde, würde man allzu genau zurück in die NS-Zeit blicken. | |
Colmorgen erinnert an die alte Villa in der Düppelstraße in der Kieler | |
Innenstadt: Sie würde sich seiner Meinung nach gut für ein Kieler | |
Dokumentationszentrum eignen. Heute hat hier die Kieler Polizeiwache 1 | |
ihren Sitz. Früher war in der Villa die Kieler Gestapo untergebracht. | |
27 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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