# taz.de -- Die Wahrheit: Glibber im Fettmantel | |
> Neuseelandwoche der Wahrheit: Was Kiwis wirklich essen. | |
Bild: Ein Pie ist immer rund, ein paar Zentimeter hoch und hat den Durchmesser … | |
Schon mit der Currywurst tat ich mich schwer. Als Deutschlands liebstes | |
Fastfood von Pinneberg bis Heidelberg verklärt wurde, dass der Ketchup nur | |
so triefte, verließ ich gerade für immer das Land der Würste für das Land | |
der langen weißen Wolke. Kein Grund zur Trauer. Denn ich zog auf die | |
Inseln, wo Milch und Manuka-Honig fließen, wo das Lammfleisch nicht zarter | |
und die Muscheln nicht frischer sein könnten. Dachte ich. Was ich nicht | |
ahnte: Ich war im Paradies der Pie-Fresser gelandet. | |
Vier Millionen Neuseeländer verdrücken 75 Millionen Pies pro Jahr. Das muss | |
man erst mal sacken lassen, am besten Richtung Darm. Was versteckt sich | |
dahinter? Vor allem: Was darin? „Fleischpastete“ klingt viel zu vornehm und | |
führt in die Irre, da das Backwerk auch vegetarisch oder süß sein kann. Ein | |
Pie ist immer rund, ein paar Zentimeter hoch und hat den Durchmesser einer | |
Milchkaffeetasse. Da gibt es strenge Vorschriften. Er hat einen | |
weichlichen, fettigen Teigmantel und obendrauf eine Schicht Blätterteig. | |
Dieser Deckel wird gern abgehoben, um Fritten oder Finger in die warme | |
Füllung zu tunken: Gelatinöser Soßenglibber mit Fleischbröckchen, für deren | |
Anblick sich jede Hundefutterdose schämen müsste. Oft ziehen sich | |
geschmolzene Käsefäden durch das blassbraune Interieur. Nichts für | |
kulinarische Ästheten. Die gängigen Geschmacksnoten: Hack und Käse (auch | |
mit Baked Beans), Schinken und Ei, Steak und Niere, Huhn und Champignons. | |
Neuerdings gibt’s Exotisches wie Thay-Curry, Mangold-Schafskäse oder Lamm | |
Vindaloo. Bei den jährlichen Pie-Meisterschaften der Firma Bakels sind | |
unter den 4.500 Einsendungen auch Sushi-Pies dabei. Ich wette, es gibt | |
sogar Currywurst im Pie. | |
Den durchschnittlichen Fettgehalt eines Pies kann ich hier nicht erwähnen, | |
sonst nimmt man mir bei der Heimkehr am Zoll wegen Hochverrats den | |
neuseeländischen Pass ab. Dass Pies schon ab 2 Dollar abgepackt und | |
stundenlang vorgewärmt an Tankstellen verkauft werden, sollte Aufschluss | |
über die Hochwertigkeit der Zutaten geben. Der Pie ist, und das hat er mit | |
der Currywurst am anderen Ende der Welt gemeinsam, das beliebteste | |
Schnellfutter im Lande und mir nicht nur aus gesundheitlichen Gründen | |
ähnlich suspekt. | |
Pies werden außer an Tanken seit jeher in der „bakery“ verkauft. Die hat | |
mit einer deutschen Bäckerei so viel gemein wie ein Frischkornmüsli mit | |
einer Tüte Chips und ist beim gemeinen Volk aufgrund ihres Angebots an | |
Fett- und Fleischhaltigem entsprechend beliebter. Vorsicht auch beim | |
Bestellen eines „Hot Dogs“: Es handelt sich hierbei um eine frittierte | |
Wurst am Stiel. Das geht nur mit Stahlmagen runter. Und „tomato sauce“ ist | |
keine Tomatensoße, sondern Ketchup, allerdings mit dem einheimischen | |
pikanten Lebkuchenaroma. Dafür ist das Hokey-Pokey-Eis mit seinen | |
Toffee-Stückchen wirklich zu empfehlen. Und Pavlova, kurz „Pav“, hat nichts | |
mit sabbernden Labor-Hunden zu tun, sondern ist ein archetypischer | |
Nachtisch aus Baiser, Sahne und Frucht. | |
Aber zurück zum Pie. Für uns gab’s als Kinder eine Kugel vom Eiscafé, | |
später gönnte man sich vom Taschengeld einen Döner. Für Kiwi-Kinder gab es | |
als Belohnung oder Picknick immer nur: Pie. Als 1977 in Auckland „Georgie | |
Pie“ als erstes Fastfood-Restaurant eröffnete, lautete die Grundregel der | |
antipodischen Erziehung fortan: Wenn du brav bist, kaufen wir „Georgie | |
Pie“. Das funktionierte später ähnlich gut mit McDonald’s. Dass so viele | |
Kiwis die Schulzeit bis zum Ende ausgehalten haben, liegt daran, dass Pies | |
in den Essensausgaben der High Schools zur Grundversorgung gehören. Das | |
bindet. | |
Pies sind Betäubung, sie sind Trost und selbst für kultivierte Menschen ein | |
kleines Gaumenglück. Promi-Gärtnerin Lynda Hallinan bekennt: „Meine letzte | |
Mahlzeit vor der Hinrichtung wäre nicht Foie Gras oder Kaviar, sondern ein | |
Pie.“ | |
Für Musikkritiker Grant Smithies ist der Biss in das warme Teigpaket purer | |
Eskapismus, „wie Sex oder ein Joint“. Pies tragen Erinnerungen an frühe | |
Morgenstunden nach durchfeierten Nächten mit sich und an | |
Pie-Fress-Wettbewerbe im Erstsemester. Pies machen nostalgisch, sie nähren | |
und verbinden, und immer hinterlassen sie Krümel. Der erste | |
Rock-’n’-Roll-Song Neuseelands stammt vom „Maori Cowboy“ Johnny Cooper … | |
hieß „Pie Cart Rock ’n’ Roll“. | |
Nach all der Recherche spüre auch ich den salzigen Sog des Pies. Er ist so | |
männlich, so warm und simpel. Er riecht etwas streng, aber herzhaft. Und im | |
Gegensatz zur Currywurst lässt er sich mit den Fingern vernaschen. Ich | |
könnte mich verlieben, wenn diese Bröckchen nicht wären. | |
8 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Anke Richter | |
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