# taz.de -- Hörspiel „Vertraute Fremde“: Im zweiten Frühling | |
> Im Hörspiel „Vertraute Fremde“ von Manga-Zeichner Jiro Taniguchi steigt | |
> ein Mann in den falschen Zug. Er landet per Zeitreise in seiner Kindheit. | |
Bild: Aus Versehen in den falschen Zug gestiegen: „Vertraute Fremde“ führt… | |
Hiroshi Nakahara ist „nicht in Form“, diagnostiziert die Großmutter am | |
Küchentisch. Der 14-Jährige starrt die versammelte Familie an. Er kann die | |
vertraute Idylle kaum fassen. Denn die friedliche Szene, die sich da vor | |
ihm ausbreitet, liegt über 30 Jahre zurück. Eigentlich geht Nakahara stramm | |
auf die fünfzig zu. | |
Eigentlich ist er selbst Familienvater und arbeitet in Tokio. Eigentlich | |
ist er nur versehentlich in den falschen Zug gestiegen und in seinem | |
Heimatdorf Kurayoshi gelandet. Gerade noch stand er vor dem Grab seiner | |
Mutter. Dann verliert der Architekt das Bewusstsein und erwacht im Sommer | |
1963 – als pubertierender Teenager. | |
Bisher kannten überwiegend Manga-Fans die Geschichte von Hiroshi Nakahara, | |
die der mehrfach prämierten, 1997 erstmals erschienenen Graphic Novel | |
„Vertraute Fremde“ des japanischen Zeichners Jiro Taniguchi entspringt. | |
2010 wurde der Stoff von dem Belgier Sam Garbarski unter dem Titel | |
„Quartier lointain“ verfilmt. Nun hat der NDR das Comic gleichnamig als | |
werkgetreues Hörspiel vertont. Die äußerst gelungene Produktion ist ebenso | |
wie die Vorlage ein von vielschichtigen Diskursen (Identität, Glück, | |
Körperlichkeit) getragenes, mit feiner sehnsüchtiger Poesie und leichtem | |
Humor angereichertes Werk. | |
## Verlust des Vaters | |
So tastet sich Nakahara (wunderbar: Andreas Fröhlich) im Hörspiel erst | |
zaghaft, dann mit zunehmender Freude durch die Kindheit in der japanischen | |
Provinz – begleitet vom sich lichtenden traumhaften Nebel der oft in | |
gedanklicher Ferne lauernden, ruckartig wiederkehrenden Erinnerungen. An | |
deren Ende – das wird dem Zeitreisenden bald klar – steht ein schwerer | |
Verlust: Es ist jener August, in dem sein Vater scheinbar grundlos | |
verschwindet. Vorher ergattert der Mann im Kind aber die Zuneigung des | |
schönsten Mädchens der Schule, weil er so „erwachsen“ wirkt. | |
Ein feiner dramaturgischer Kniff sind die ständigen Wechsel der | |
Erzählperspektive. Der Protagonist denkt mit der reflektierenden Stimme des | |
Erwachsenen, spricht aber mit der eines Kindes (Arash Marandi): „Ich war | |
nicht der 14-Jährige von früher. Früher hatte ich nichts so gehasst wie | |
Sportunterricht, jetzt genoss ich das Gefühl, in einem jungen Körper zu | |
stecken.“ | |
In der an Dynamik zulegenden Handlung erliegt Nakahara immer mehr | |
spielerisch dem Sog der vergessenen Teile seiner Existenz. Und doch ist der | |
intime Blick der Adaption ein distanziert-lebenskluger. Ihr gelingt es so | |
unaufgeregt wie leise, das Prinzip der Charakter-„Zeichnung“ aus der | |
Graphic Novel ins Radioäquivalent zu übertragen. Regisseur Martin Heindel | |
kreiert „Vertraute Fremde“ als akustisch vollendetes Storyboard. | |
Am Ende der magischen Vergangenheitsbewältigung stehen sich am Bahnhof | |
Vater und Sohn gegenüber und können Abschied voneinander nehmen – der eine, | |
so stellt sich heraus, als Opfer seiner Zeit, der andere als einer, der sie | |
auf diesen Moment hin neu formen durfte. So wirken die letzten Worte des | |
Verschwindenden wie das Echo einer gleichnishaften, verspäteten Heimkehr | |
für beide: „Wenn du einmal so alt bist wie ich, wirst du mich verstehen.“ | |
10. Oktober 2012, 20:05 Uhr, NDR Kultur | |
10 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Jan Scheper | |
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