# taz.de -- Justiz: Eine Stadt sucht nach Gründen | |
> Was geschah am 29. Dezember im Wald von Ludwigsfelde? Ab morgen soll der | |
> Prozess gegen Heinrich Scholl klären, ob der frühere Bürgermeister seine | |
> Ehefrau getötet hat. | |
Bild: Eine Stadt sucht einen Mörder. | |
Ludwigsfelde ist eine kleine Industriestadt im südlichen Berliner | |
Speckgürtel, seit 1965 werden hier Autos gebaut. Die Stadt hat die | |
Jahrzehnte seit dem Ende der DDR verhältnismäßig gut überstanden. Fast alle | |
20.000 Einwohner schreiben das ihrem früheren Bürgermeister Heinrich Scholl | |
(69) zu. | |
Seit dem 29. Dezember vergangenen Jahres rätseln die Ludwigsfelder, was | |
genau im Wald nahe der Chaussee Richtung Siethen am Rande der Kleinstadt | |
geschehen ist. Seit fast neun Monaten sitzt Heinrich Scholl wegen Mordes an | |
seiner Frau in Untersuchungshaft und beteuert seine Unschuld. Morgen | |
beginnt in Potsdam der Prozess gegen ihn. | |
Ludwigsfelde wird geteilt durch die Bahnlinie Berlin–Leipzig und die | |
Autobahn des Berliner Rings, aber es geht noch ein anderer Riss durch die | |
Stadt, durch fast jede Familie. | |
Ich bin als Lehrerkind in Ludwigsfelde aufgewachsen, meine Eltern haben von | |
den 50er Jahren bis zu ihrer Rente Generationen von Schülern Geografie, | |
Astronomie und Sport beigebracht. Unter anderem Heinrich Scholl. Später | |
wurde Scholl als Lehrer an der Berufsschule Kollege meines Vaters, | |
gemeinsam bereiteten sie die Gründung der Ludwigsfelder SPD vor, waren | |
Genossen und Kameraden beim Fußball der Alten Herren. | |
Die Wirtin im Alten Krug, dem ältesten Haus von Ludwigsfelde, will sich | |
nicht zu dem Fall äußern – dafür springt ein circa 70 Jahre alter Gast ein. | |
Ihm geht es auch nicht anders als uns, er weiß nicht mehr als das, was er | |
gelesen habe und was die Leute so über den Fall erzählen: „Die Stimmung | |
ist: Wir wollen wissen, was los ist, was wirklich passiert ist.“ Dabei ist | |
ihm klar, dass der wirkliche Hergang des Verbrechens vielleicht niemals | |
bekannt wird. Die eine Hälfte von Ludwigsfelde glaube trotz der | |
Verlautbarungen und Berichterstattung an Heinrich Scholls Unschuld, die | |
andere hält ihn für den Täter. Das ist es, was die Stadt stärker teilt als | |
die ICE-Strecke, über die Münchener mit 200 km/h nach Berlin rasen, oder | |
die Autobahn auf Stelzen durchs Stadtzentrum. | |
Mein Vater glaubt an Scholls Unschuld, während andere in der Familie davon | |
überzeugt sind, dass er im Affekt zum Totschläger geworden ist. Laut | |
Staatsanwaltschaft und Lokalpresse hat sich an jenem Donnerstag im vorigen | |
Winter Folgendes zugetragen: Mittags gehen Scholl und seine Ehefrau mit dem | |
Cockerspaniel Ursus im Wald spazieren, als der heimtückische Gatte sie | |
„unvermittelt von hinten mit einem Schnürsenkel um den Hals“ erdrosselt. | |
Anschließend schlägt Scholl ihr zweimal mit der Faust ins Gesicht, zieht | |
ihr eine Plastetüte über und schnürt sie mit der Hundeleine und einem Seil | |
zu. Er entblößt sein Opfer teilweise, bedeckt es mit Moos und Gras und | |
tötet auch noch den Hund mit einem Strick. | |
Warum? Staatsanwaltschaft und Märkische Allgemeine wollen wissen, die Ehe | |
sei zerrüttet gewesen und Scholl habe eine Beziehung mit einer | |
thailändischen Prostituierten in Berlin gehabt, die er seit Mai 2008 | |
finanziell unterstützte. Im gemeinsamen Haus mit seiner Frau habe er sich | |
nur „geduldet“ gefühlt und sich einer „demütigenden häuslichen Ordnung… | |
unterordnen müssen. Auch Geldsorgen hätten ihn gedrückt. | |
Ein Journalist besucht kurz vor Verhandlungsbeginn meinen Vater für die | |
Berliner zitty, wir sitzen in der Rosa-Luxemburg-Straße beieinander. Er ist | |
hergekommen im Glauben, eine idyllische Kleinstadt zu finden, und ist | |
enttäuscht. Ob Scholl denn gehänselt worden sei, will der Journalist | |
wissen. „Auf keinen Fall!“ Sei er denn durch Führerinstinkt aufgefallen, | |
als eine Art Leitwolf? Mein Vater erinnert sich daran, wie Scholl | |
Chef-Ingenieur an der Schmiede des Autowerks werden wollte. | |
## Schneller gewuppt | |
Scholl habe also in der Wendezeit die gewaltigen Veränderungen schneller | |
gewuppt als andere? Mein Vater stimmt zu: SPD gegründet, ziemlich schnell | |
Bürgermeister geworden, die entscheidenden Veränderung eingeleitet, damit | |
Ludwigsfelde Industriestandort blieb. Ob der SPD-Mann Scholl denn beseelt | |
von politischen Inhalten gewesen sei? Das glaubt mein Vater nicht, nach der | |
Wende sei Scholl eher vom eigenen Ehrgeiz getrieben gewesen. Das | |
Ludwigsfelder Bad steht seiner Ansicht nach dafür. „Da mag wohl so manche | |
Summe hin- und hergekungelt worden sein“, ist seine Meinung. Scholl habe | |
ehrgeizig den Erfolg gesucht, egal ob alles legal gewesen sei oder illegal. | |
Der Journalist ist baff: „Wirklich?“ Mein Vater bekräftigt es. | |
## Immer noch ein Freund | |
Da müsse doch die enorme Beliebtheit von Scholl Kratzer bekommen haben? | |
Mein Vater bestreitet das. „Würden Sie sich noch als Freund von Heinrich | |
Scholl bezeichnen?“ Ja, die Mordanklage habe ihn in keiner Weise | |
abgehalten, mit ihm befreundet zu sein. Selbst eine Verurteilung würde das | |
nicht ändern. Er begründet es mit seinem eigenen jahrelangen | |
Zuchthausaufenthalt in der DDR. | |
„Mit dem Telefon, das ist schon starker Tobak“, denkt der Journalist laut | |
über eines der Indizien nach, das gegen Scholl spricht – die Ortung seines | |
Handys am Tatort. Und: „Warum der Hund?“, überlegt der Journalist, es sei | |
doch seltsam, dass man den Hund auch umbringe. | |
„Für Mord ist der Scholl zu clever“, bleibt mein Vater dabei. Nun breitet | |
er seine Privattheorie aus, nach der die Familie von Scholls Geliebter | |
hinter dem Mord steckt, die fürchtete, Scholl käme sonst mit zu wenig Geld | |
nach Thailand. So hat fast jeder in Ludwigsfelde eine Theorie, über einen | |
Auftragsmord wurde viel spekuliert, aber die vielleicht gewagteste | |
Hypothese hat ein Freund von Scholl, gleichzeitig eine schillernde Figur, | |
mein Vater und ich besuchen ihn. | |
Auch er ist knapp 70 und lebt einige Blocks vom Holzhaus der Scholls | |
entfernt. „Selbst dieses Haus ist von Scholl projektiert!“, betont er, als | |
sei das ein Beleg für die Aufrichtigkeit des früheren Bürgermeisters. | |
Gerade ist er aus Indonesien zurückgekehrt, wo er sich ein Boot bauen | |
lässt. Er schreibt sich mit dem Gefangenen Scholl Briefe. | |
## Alles Wichser | |
Er glaubt an Selbstmord, selbst die wirklichen Freunde und Insider seien | |
„zu doof“, um das zu erkennen. Er vermutet wohl eine familiäre Disposition | |
zum Suizid und überlegt seit Tagen, wann sich denn die Schwester von | |
Scholls Frau umgebracht habe. Er sieht die Staatsanwaltschaft in einer | |
Zwickmühle, die sich mit ihren Verdächtigungen weit aus dem Fenster gelehnt | |
hat, aber nur dürftige Indizien in der Hand hält. „Die halten sich jetzt an | |
einer Parteifreundin von euch fest, die ihn gesehen haben soll, wie er mit | |
seiner Frau im Wald stand.“ Er ist wütend, spricht von „Wichsern“, „von | |
sich eingenommenen Arschlöchern“ und „Verbrechern“. Dass Scholl beweisen | |
muss, dass er den Mord nicht begangen hat, sei eine Unverschämtheit | |
allerhöchster Potenz. Aber in der Verhandlung werde die Anklage in sich | |
zusammenbrechen, denn es gebe insgesamt fünf Zeugen, die Scholls Alibi | |
bestätigten. | |
Als bekanntem Politiker stehe ihm auch Entschädigung für den ruinierten Ruf | |
zu. Er glaubt an einen Freispruch mangels Beweisen, doch wird die | |
Staatsanwaltschaft versuchen, ihm etwas anderes anzuhängen, daher die | |
Korruptionsermittlungen in Neuruppin gegen ihn, einen Bauunternehmer und | |
einen Bäderbetreiber. Er hält Scholl für zu pfiffig, als dass ihm da etwas | |
nachzuweisen wäre. Am Ende widerspricht er dann selbst seiner | |
ursprünglichen Theorie: „Die ist umgebracht worden, aber nicht von Heiner | |
Scholl.“ | |
16 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Falko Hennig | |
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