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# taz.de -- Kunst der Straße: Eine Rebellion kommt an
> Graffiti - das war Jugendkultur, ein Stück Rebellion, Selbstfindung
> zwischen Schmiererei und Kunst. Inzwischen darf vielerorts ganz offiziell
> gesprayt werden, und manche Sprayer von früher sind sogar Stars des
> Kunstmarktes geworden
Bild: Geht immer öfter auch legal: Sprayer bei der Arbeit.
Ein Boxer pisst gelangweilt an die mit Graffiti besprühte Wand. Der Putz
bröckelt leicht, die Farbe blättert, er scheint nicht zum ersten Mal zu
zeigen, wer hier der Chef ist.
Scheiß Töle! Ein Blick auf das frisch besudelte Bild an der Wand: flüchtig
wirkende Striche, ein unvollendeter Farbauftrag. Viel Zeit blieb damals
nicht. Die Parallelen sind dennoch unverkennbar: Zeigen, dass man da war,
das Revier markieren, wenn auch mit der Sprühdose. In gewisser Weise sind
Graffiti etwas ganz Natürliches.
Und so rankt mittlerweile Efeu um die Buchstaben hier an der
Bahnunterführung in Prisser, einem 100-Seelen-Dorf im beschaulichen
Wendland. Die Wand hat den Lack längst aufgesogen, lässt ihn langsam
verblassen. Über zehn Jahre hatte sie Zeit dazu. Der Platz für jugendliches
Adrenalin, für das, was damals der Inbegriff von Kreativität war: ziemlich
verloddert, ziemlich verlassen.
Doch auch zurück in Hamburg zeigt der flüchtige Blick aus dem
S-Bahn-Fenster ein ähnliches Bild. Die Farben an den Mauern leuchten nur
noch vereinzelt, nur manchmal zeigt sich ein neues „Piece“. Auch hier nagt
der Untergrund am Gesprühten, es bröckelt. Hier, wo Graffiti, als Teil der
Hip-Hop-Kultur aus Amerika herübergeschwappt, mit als erstes strandeten. Wo
die Beginner und Samy Deluxe ihre ersten Reime schrieben. Damals der „Place
to be“ für einen 14-jährigen Provinz-Halbstarken mit schiefer Mütze und
Schlabber-Klamotten – doch der Zahn der Zeit spielt Krümelmonster.
Wenn die erste große Jugendliebe schleichend unterzugehen scheint, sind
Freunde und Helfer gefragt. „In der Zeit von 2010 bis 2011 ist die Zahl der
Strafanzeigen wegen Graffitis von 4.386 auf 3.814 gesunken“, sagt der
verantwortliche Polizeisprecher für Hamburg, Holger Vehren. Das seien
allerdings nur die gemeldeten Fälle. Für 2012 gebe es noch keine Zahlen,
eine verfrühte Einschätzung sei unseriös. Dennoch, ein Rückgang von rund 13
Prozent, nachdem in den vorangegangenen Jahren die eingehenden Anzeigen
leicht, aber kontinuierlich stiegen.
## Ausnahme S-Bahn
Das Gros der städtischen Verkehrsunternehmen verzeichnet ebenso leicht
zurückgehende Vorfallszahlen. Einzig die S-Bahn kam im August nicht mit der
Reinigung ihrer Züge hinterher. Sie sieht einen Zuwachs von 25 Prozent für
den Monat. Genaue Zahlen veröffentlicht sie nicht, wegen der Gefahr von
Nachahmern. „Besonders die Sommermonate sind prädestiniert für
Schmierereien. Es sind Ferien, draußen ist es länger hell“, erklärt eine
Sprecherin.
Manchmal stand am Anfang ein Bravo-Poster. Alle wichtigen Rapper, von der
West zur East Coast, darauf versammelt. Wu-Tang Clan stand da, in schlecht
„getaggter“ Computerschrift, die trotzdem nach Adaption schrie. Und so
wurde gemalt, wurden Buchstaben abstrahiert, wurden Outlines gezogen.
Abends dann, mit geklautem Autolack an verlassenen, verramschten Gebäuden.
Es roch nach Verbotenem, es reizte sehr. Primär in der Nase, ein Mundschutz
war nicht „real“ – man war gefährlich.
Und doch so weit weg von den Gettokids, für die es damals in der New Yorker
Bronx tatsächlich um Anerkennung und Respekt ging. Um Street Credibility
und wer hat wen erschossen. Ein Phänomen, das in Umgangsform und
Sprachvermögen irgendwann auch in den hiesigen Straßen Einzug hielt, durch
Aggro Berlin exponentiell expandierte und Kids aus Großstädten und Dörfern
zu Gangstern werden ließ – und die Blinddarmnarbe zur Schusswunde.
„Ich war eine der wenigen, die hier in Hamburg Feldzugang zu den Bagaluten
hatte“, erklärt Barbara Uduwerella. Die 70-jährige Rentnerin war
Sozialpädagogin, mit ihrem „Hip-Hop Hamburg“-Projekt half sie ertappten
Jugendlichen. Sie vermittelte Kontakte zu Anwälten, schenkte den
Jugendlichen Vertrauen und übergab Verantwortung: „Wenn sie sich ernst
genommen fühlen, man sie nicht nur dauernd kontrolliert, dann stehen da auf
einmal eigenverantwortliche, mündige Personen vor dir.“
Uduwerella ist eine Institution, 2002 wurde sie vom Bundestag zum Thema als
Expertin angehört. Ihre Einschätzung zur aktuellen Lage: „Es ist nicht
weniger geworden. Das Ganze hat sich eher verschoben. Es wird viel mehr
legal gesprüht, die Jugendlichen sind ja nicht dumm.“
Also kein Abgesang auf ein vom Aussterben bedrohtes Kulturgut. Stattdessen
Spurensuche, zum Beispiel in der Schanze. Und „Udu“, wie Uduwerella von
ihren Jugendlichen genannt wird, scheint recht zu haben: Es gibt jede Menge
legale Wände. Die Bilder an den Mauern sind mit viel Muße und Liebe zum
Detail ausgearbeitet, von Arbeit unter Zeitdruck weit entfernt.
Weiterentwicklung ist auch etwas Natürliches.
Einer, der früh diesen Weg gegangen ist, ist „Daim“ alias Mirko Reisser.
Adidas, MTV, Opel und Volvo, Marlboro Cigarettes, Carhartt oder Mars sind
nur ein paar seiner Auftraggeber. Mit seinen ausgeklügelten 3-D-Styles hat
der 41-jährige Hamburger die Kontinente bereist. „1989, relativ spät mit
17, hatte ich das erste Mal eine Sprühdose in der Hand. Zuerst illegal,
aber nach ein paar Monaten wurde ich erwischt“, sagt er und stellt die
Fingerspitzen zu einer Pyramide auf. Schon damals gelangte er an erste
Aufträge, der Rest entwickelte sich von allein.
„Hip-Hop war immer sehr dogmatisch“, erklärt Reisser. Er meint damit die
klar abgesteckten Raster, nach denen in der Szene beurteilt wird, was
„real“ oder „sell out“, was gut oder schlecht ist. Im Graffiti war immer
wichtig, an möglichst exponierten, besonders gefährlichen Orten zu sehen zu
sein, um „Fame“ zu bekommen.
Doch ähnlich wie im Rap, den neue Künstler wie Casper oder Kraftklub mit
anderen Stilelementen kombinieren, werden auch die Regeln der Straßenkunst
aufgebrochen. „Die individuelle Vermischung nimmt zu“, bestätigt Reisser.
Außerdem seien immer mehr Sprüher von damals mittlerweile Grafik-Designer
oder in anderen kreativen Berufen tätig.
Dem schiefmützigen Jungen von damals ging es ähnlich: Nach dem
Kunst-Leistungskurs folgte ein Studium der Kunstwissenschaften, nebenbei:
vereinzelte Grafikdesign-Aufträge. Im Prinzip also genau der beschriebene
Weg. Der Dozent im Ohr dabei, ein destruktiver, eingefahrener Souffleur:
Graffiti? „Das ist doch keine Kunst“.
## Geschenk aus London
Bleibt nur noch der „Exit through the gift shop“. So heißt der Film von
Banksy, dem derzeit wohl bekanntesten Street-Art-Künstler. Er ist ein
Geschenk der Londoner Nacht an jeden Kunstwissenschaftler. Denn seine
Schablonengraffiti mit Affen, Ratten, Kindern und Polizisten sind die
Zeichen am Wegesrand, die von der schwer dechiffrierbaren
Graffiti-„Schmiererei“ zur witzigen, figürlichen, politischen, zugänglich…
Street-Art und mitten hinein in die Popkultur führen.
Auf Anfrage bei den Hamburger Unis wird als Experte zum Thema Martin
Papenbrock empfohlen, Professor für Kunstgeschichte am Karlsruher Institut
für Technologie: „Durch Prominente wie Banksy und Shepard Fairey hat
Graffiti inzwischen auch Einzug in die Feuilletons gefunden“, sagt
Papenbrock. „Sie werden erstaunt sein, wie viele Abbildungen von Graffitis
Sie inzwischen finden.“
Graffiti habe durch die neuen Medien einen Schub bekommen, er selbst plane
mit einer Kollegin der Sprachwissenschaften einen Workshop, an dem sich
auch Kollegen aus weiteren Disziplinen und anderen Unis beteiligen: „Sie
sehen, nicht nur die Graffiti-Szene lebt, auch die Wissenschaften sind auf
diesem Feld aktiv.“
Na, dann ist die Kunst aus der Sprühdose ja gerettet, ein Glück. Statt der
Gebäudereinigung kommt der Verglaser, um das Werk zu schützen. Oder direkt
mitzunehmen, um es meistbietend zu verhökern. Denn auch der Kunstmarkt
jubelt, bezahlt horrende Summen: 1,3 Millionen Euro erbrachte im Februar
2008 ein Banksy mit dem Namen „Keep it Spotless“.
Wer der Künstler tatsächlich ist, wissen nur Eingeweihte. Er bewegt sich
unter dem Radar, sprüht nur nachts. Das fördert den Starmythos, das gibt
dem Affen Zucker. Das Illegale wird zum Mittel der Vermarktung.
Und so findet die Kunst von der Straße auf verschiedenen Wegen immer mehr
den in die Mitte der Gesellschaft. Ihr eigentlicher Sinn kommt abhanden,
der Gestus bleibt und wird adaptiert: in den Medien, in der Mode, in der
Werbung. Graffiti werden zum Mittel, um authentisch und hip zu erscheinen.
Und dafür verantwortlich sind oftmals die illegalen Sprüher von früher.
Das kann zu skurrilen Szenen führen. Der Hals-Nasen-Ohren-Behandlungstrakt
in der Asklepios-Klinik in Harburg: zu erwarten ist ein steriles, klinisch
reines Interieur. Doch die Innenwand ziert ein bunt gesprühtes „HNO“ – e…
Auftragsarbeit. Auf dem Rückweg machen sich etwas später zwei Jugendliche
mit Sprühdosen an einer Mauer zu schaffen, eher schlecht als recht. Hinter
ihnen steht ein Mann in schwarzem, verwaschenem Schlabber-T-Shirt, die
angegraute Mähne zu einem Zopf gebunden. Er gibt ihnen Ratschläge, weist
sie an, wie sie die Sprühdose zu halten haben.
Die rebellische Kraft der Graffiti – irgendwo auf dem Weg zum
Erwachsenwerden ist sie schon fast verschütt gegangen. Auch etwas
Natürliches, leider.
26 Oct 2012
## AUTOREN
Arne Schrader
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