# taz.de -- Kirchturm-KLettern: "Runter war schöner als hoch" | |
> Klettern gefahren waren sie in der Gemeinde schon länger. Nun gibt es an | |
> einem Kirchturm im Hamburger Westen eine eigene Wand - die höchste der | |
> Stadt. | |
Bild: "Man sieht mindestens zwei Kilometer weit": die Martin-Luther-Kirche in H… | |
Wenn Menschen hochgucken, und man steht ihnen gegenüber, sieht man zwei | |
Löcher und ob in der Nase Haare wachsen oder nicht. Häufig öffnen wir alle | |
beim Hochgucken auch den Mund. Macht dann sogar drei Löcher. An diesem Tag | |
gucken in Hamburg, an der Schenefelder Landstraße, viele Menschen nach | |
oben, und etlichen bleibt der Mund offen stehen: Die Kletterwand der | |
Martin-Luther-Kirche wird eingeweiht, die höchste Kletterwand der Stadt. | |
Gerade hängt ein junger Mann am Seil, von der Bild-Zeitung, sein Fotograf | |
nennt ihn „Dicker“, und wird dabei gesichert von Oliver Schöpe. Er versucht | |
den zweiten der vier Schwierigkeitsgrade zu klettern. Als das nicht klappt, | |
wechselt er auf den ersten über. Den klettert eigentlich gerade Linus, 12, | |
aber der ist schon so weit oben, da kommen sie sich nicht in die Quere. Dem | |
„Dicken“ rutscht das Hemd aus der Hose, der Gurt schneidet ein. Später, als | |
er wieder unten ist, und alles wieder an seinen Platz gestopft, stellt er | |
fest: „Alle haben meine Wampe gesehen.“ | |
Linus macht sich keine Gedanken über seine Außenwirkung: „Ich hab’ ein | |
Hochhaus gesehen und Wald“, erzählt er. „Man sieht mindestens zwei | |
Kilometer weit von da oben.“ Und wie weit oben ist „da oben“? Linus | |
überlegt kurz. „22 Meter.“ | |
Oliver Schöpe ist 26 und Sozialarbeiter der Kirchengemeinde | |
Sülldorf-Iserbrook. Er klinkt sich aus, sichern wird nun ein anderer. Wir | |
nehmen Longdrinks, er einen roten, ich einen gelben – ohne Alkohol, das | |
schmeckt man. In den Roten Würsten auf dem Grill ist immerhin Fleisch, das | |
riecht man. Eine Klettergruppe, erzählt er, gab es schon seit vielen Jahren | |
an der St. Michaelskirche in Sülldorf, nicht weit weg von hier. Angeregt | |
hatte sie Pastor Bernd Neumann, der auch selbst klettert. Die Gruppe fuhr | |
in den Harz und die Rhön, auch mal in Hagenbecks Tierpark. „Das war alles | |
auf die Dauer teuer und weit“, sagt Schöpe. | |
## Irgendwie auch Religion | |
Das Gruppengefühl aber, das da beim Klettern entsteht und irgendwie auch | |
mit Religion zu tun hat: Das wollten die jungen Gemeindemitglieder nicht | |
missen, und so kam 2005 der Wunsch auf: „Wir wollen eine Kletterwand.“ Der | |
Kirchenvorstand sei nicht dagegen gewesen, erinnert sich Schöpe, sondern | |
habe gesagt: „Die Jugend muss sich die Kirche zu eigen machen.“ Das zitiert | |
er aus dem Kopf. Dann seien die Bedenkenträger gekommen: Können wir uns das | |
leisten? Wie ist das mit der Versicherung? Und: Wo soll die Kletterwand | |
überhaupt hin? | |
Pastor Neumann, der beim Kirchentag 1995 mit seiner Frau in luftiger Höhe | |
am Hamburger Michel ein Transparent angebracht hatte, wusste: „An | |
Kirchenwänden kann man gut klettern, und das hat was.“ Ein Versuch an der | |
St. Michaeliskirche scheiterte. „Ein Haken“, sagt Neumann, „hängt noch in | |
der Wand.“ | |
2006 fusionierten dann die Gemeinden Iserbrook und Sülldorf zu einer, die | |
war doppelt so groß, hatte zwei Kirchen, und an einer davon einen Turm mit | |
einer Wand, 22 Meter hoch, acht Meter breit. Innen im Turm kann man | |
hochlaufen, was für Wartungsarbeiten ein enormer Vorteil ist. | |
Nun wurde die Sache konkret. Die letzte Hürde war die kirchenaufsichtliche | |
Genehmigung aus Kiel. Und als am Turm Wartungsarbeiten vorgenommen wurden, | |
ein Hubsteiger da war, den die Klettergruppe einen Tag länger mietete, da | |
„bohrten in 24 Stunden 15 Jungs rund um die Uhr, davon immer zwei Mann im | |
Korb, 2.452 Löcher in die Wand“, erzählt Schöpe. Auch nachts, im | |
Scheinwerferlicht. „Die Nachbarn haben viel ausgehalten.“ | |
Es sind 500 Griffe an der Wand, im Moment gibt es Routen zwischen den | |
Schwierigkeitsgraden 2+ und 6+, aber weil damals so viele Löcher gebohrt | |
worden sind, sind auch noch schwierigere Routen möglich. Alles abgenommen | |
vom TÜV München. | |
## „Getragen von oben“ | |
Wer klettert hier? „Die Gruppen unserer Gemeinde, die sozialen Träger des | |
Stadtteils, die Schulen haben schon gefragt, die Nachbargemeinden sind | |
neugierig“, sagt Schöpe. Und samstags von 12 bis 18 Uhr kann, unregelmäßig, | |
offen geklettert werden. Wann, wird über Facebook bekannt gegeben. | |
Mit der Kletterwand sollen keine Jugendlichen eingefangen werden, sagt | |
Schöpe. „Es geht um das Gehaltenwerden von unten, das Getragenwerden von | |
oben, das Vertrauen in andere. Um die Verantwortung, die man übernimmt für | |
den, den man sichert, und die Abhängigkeit, in die man sich begibt, wenn | |
man klettert.“ Vier Mitglieder der Kirchengemeinde haben beim Deutschen | |
Sportkletterverband eine Ausbildung gemacht, „um sicherzustellen, dass mit | |
der Sicherung alles klappt“, sagt Neumann. | |
Sarah, 13, „hinten mit ’h‘“, ist die leichte Route locker hochgekletter… | |
Angst? „Nö!“ Oben hat sie sich ganz weit abgestoßen und dann hat sie der | |
Sicherungsmann so richtig schön sausen lassen. „Das war toll“, sagt Sarah. | |
„Runter war schöner als hoch.“ | |
## Martin-Luther-Kirche, Hamburg, Schenefelder Landstraße 200 | |
1 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Roger Repplinger | |
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