# taz.de -- Die Wahrheit: Göttinnen der Strasse | |
> Ich war ein vielbeschäftigter Mann an diesem Mittwoch im Mai, hatte | |
> mehrere Termine an unterschiedlichen Orten der Hauptstadt ... | |
Ich war ein vielbeschäftigter Mann an diesem Mittwoch im Mai, hatte mehrere | |
Termine an unterschiedlichen Orten der Hauptstadt und entsprechend viel | |
Geraffel mitzunehmen. Ich kam also mit dem Auto. Auf der Friedrichstraße | |
brauchte ich wieder einmal für zwanzig Meter ebenso viele Minuten, und die | |
Auspuffstänkereien des 200er Diesels vor mir beschworen nach einer Weile | |
Visionen von beeindruckender Suggestivkraft herauf. | |
Diese beiden märchenhaft glutäugigen Zigeunerschönheiten am Straßenrand | |
wirkten so echt wie der Stinkbenz vor mir, während die erbarmungslose | |
Stimme der TomTom-Domina mich zum wiederholten Mal aufforderte, endlich | |
abzubiegen – bis ich hirnlos losbrüllte: „Erst mal können vor Lachen, du | |
alte Gewitterziege!“ | |
Sie haben vollkommen Recht, bei klarem Verstand würde ich auch eher von | |
„zwei Schönheiten aus dem ethnologischen Kontext der Sinti und Roma“ | |
sprechen, aber in diesem Moment der totalen Dieselbesoffenheit waren das | |
zwei scharfe Zigeunerschlusen, mein lieber Herr Gesangverein, das kann ich | |
Ihnen aber flüstern. Und wie zur Bestätigung machte sich der BMW-Fahrer | |
hinter mir, ein nervöses Hemd, an seiner Hupe zu schaffen. | |
Es schien Liebe auf den ersten Blick zu sein. Herzlich lächelnd traten sie | |
vor, warfen mir Kusshände zu. Und begannen mit einigem Eifer die Scheibe zu | |
wienern. Einen Pfefferminztee hätte ich gern mit ihnen getrunken, und | |
hinterher mal sehen, aber ich konnte diese beiden Grazien nicht für mich | |
arbeiten lassen. | |
Sie ignorierten mein Übersprungsgefuchtel mit einem feinen Lächeln und | |
kamen bald zum Ende. Die Scheiben waren alles andere als sauber, aber nur | |
ein Pedant hätte sie darauf hingewiesen. Sie schenkten mir noch ein | |
weiteres Verführerlächeln, und während der BMW-Mann anerkennend tutete, | |
zeigte ihr Fingerspiel etwas, das man überall auf diesem Planeten mit | |
Pinkepinke oder den jeweiligen Synonymen übersetzt. | |
Mein Kohlenmonoxidtraum verflüchtigte sich, ein Fenster zur Realität ward | |
aufgestoßen. Ich zückte die Börse. „Hab nur Scheine“, sagte ich mit | |
Achselzucken. „We can change!“ Also reichte ich ihnen einen Zwanziger | |
durchs Fenster. „Gebt mir einfach 18 Euro zurück!“ | |
Sie konnten sich vor Lachen kaum halten. Aufreizend langsam zählten sie mir | |
Wechselgeld hin. Ein Zehncentstück. Ein Fünferkupfer. Gnickergnicker. Als | |
sie mir fünfunddreißig Cent retourniert hatten, bewegte sich die | |
Autoschlange wieder ein paar Meter vorwärts, sogleich ließ der | |
BMW-Neurotiker hinter mir eine weitere Hupserenade erklingen, was die | |
Märchenfeen gut gelaunt die Achseln heben ließ. | |
Sie konnten weiß Gott nichts dafür, dass ich jetzt leider weiter musste. | |
Ich rammte ruppig den Gang hinein, Strafe muss sein, wollte mich für einen | |
Augenblick ganz dem Ärger hingeben, begann sogar zu glauben, man hätte mich | |
über den Löffel balbiert, aber dann sah ich im Rückspiegel, wie diese | |
bronzenen Straßengöttinnen mir freundlich, ja beinahe liebevoll | |
hinterherwinkten, und fühlte mich – reich beschenkt. | |
9 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
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