# taz.de -- Berliner Szenen: Großkotz in Moll | |
> Berlin ist wild und gefährlich. Und unsere AutorInnen sind immer | |
> mittendrin. Ihre schrecklichsten, schönsten und absurdesten Momente in | |
> der Großstadt erzählen sie hier. | |
Vor zwei Wochen wurde dem "Berliner Weltbürger" Daniel Barenboim gehuldigt | |
- völlig zurecht, denn der just 70 gewordene Klaviervirtuose und | |
Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper ist ein angesehner und von den | |
BerlinerInnen geliebter Mann, seine Auftritte sind stets ausverkauft. | |
Barenboim hat einen Berliner Bruder im Geiste. Auch wenn sich der | |
Pop(ulär)-Musiker Chilly Gonzales, früher nur Gonzales, im Auftreten | |
unterscheidet: die Berliner lieben den Klaviervirtuosen kanadischer | |
Herkunft, der Anfang der 00er-Jahre eine der wichtigsten Figuren der | |
Berliner Musikszene war. Schließlich entschwand er nach Paris. Für seine | |
drei Piano-Konzerte Anfang dieser Woche im Neuköllner Heimathafen waren | |
seit Monaten keine Tickets mehr zu haben. | |
Sein letzter Auftritt am Mittwoch, versprach Chilly Gonzales zu Beginn, | |
würde "natürlich" der beste werden. Niemand im Saal zweifelte, dass er an | |
den Tagen zuvor das gleiche für den jeweiligen Abend versprochen hatte. Der | |
40-jährige, der nichts Geringeres als Genialität für sich beansprucht, | |
spielte fortan ein durchtriebenes Spiel mit dem Publikum: Erst bot er ein | |
paar klassisch angehauchte Liedchen solo auf dem Piano dar, mit gestrenger | |
Miene - und im Bademantel. | |
Dann startete er ein musikalisches Reeducation-Programm samt Streifzug | |
durch die Popmusik des 20. Jahrhunderts, brachte den Zuschauern im Eiltempo | |
die Banalität von Dancefloor-Musik und altem Rap bei sowie den Unterschied | |
zwischen Dur (herrschaftlich, faschistisch) und Moll (links, underdog) bei. | |
Auf die Leinwand im Bühnenhintergrund wurde dazu sein Spiel auf den | |
Flügel-Tasten projeziert. | |
Die Show - perfektes Entertainment, wie vom Künstler propagiert - stieß auf | |
schlichtweg euphorische Reaktionen der gut 500 Zuschauer, darunter Twens | |
genauso wie Mit-60er. Weil einige von ihnen sich noch gut an die wilden | |
00er-Jahre erinnerten. Und weil es gut tat, in Zeiten, in denen Poprentner | |
wie die Stones oder Depeche Mode noch mal zur Resteverwertung kommen, zu | |
erleben, dass man auch mit Popmusik altern kann - mit Augenzwinkern und | |
ohne alt auszusehen. | |
Und um noch eins draufzusetzen, spielt Chilly Gonzales im Mai erneut in | |
Berlin. Diesmal in der Philharmonie. Dort tritt ab und an auch Barenboim | |
auf. Noch gibt es Karten. | |
30 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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