# taz.de -- Die Wahrheit: Ich möchte nie mehr ... | |
> ... Teil einer Jugendbewegung sein. | |
Klasse Sound. Druckvolle Bässe, sägende Gitarren, knallende Snare. Um mich | |
herum singen und hüpfen fröhliche Menschen jenseits der 40. Doch es ist | |
keine dieser Ü40-Parties, die seit 30 Jahren Woche für Woche abgefeiert | |
werden, obwohl kein Mensch jemals zugab, dort gewesen zu sein. Diese | |
Menschen hier unterscheiden sich von den üblichen Ü40-ern durch die | |
signifikant geringere Menge an Rasierwasser auf männlicher und die | |
signifikant flacheren Absätze auf weiblicher Seite. | |
Schon die Ankündigung zeigt die Welten, die zwischen den alternden | |
Partyvölkern liegen. Während die Ü-40-Partys in Hamburg mit giftroten und | |
sekretgrünen Plakaten beworben werden, deren Ästhetik sagt: „Du bist Ü40, | |
auf Geschmack kommt es jetzt nicht mehr an“, waren hier Grafiker erster | |
Güte am Werk. Die Atmosphäre ist geprägt von musikalischer Kennerschaft, es | |
gibt keine Anzeichen von stumpfer Unterwerfung unter die Diktate des | |
schlechten Geschmacks oder des Geschlechtstriebs. | |
Wir sind auf dem „Rolling Stone Weekender“, dem Herbstfestival des | |
legendären Musikmagazins, das seit 50 Jahren tapfer dafür kämpft, dass wir | |
Rocknerds jenseits der 40 uns noch cool fühlen dürfen. Auf der Bühne | |
musizieren vier Herren um die 40. Sie nennen sich Tocotronic und sind seit | |
zwei Jahrzehnten mehr in den Feuilletons als in Plattenläden zu finden. | |
Dafür verehre ich sie. | |
Ich fühle mich so wohl, wie man sich mit all den Leiden eines | |
Vorruhestandsanwärters wohlfühlen kann, und zwar genau ein Lied lang. Das | |
zweite stürzt mich in die tiefste Sinnkrise, seit John Lydon sich bei der | |
britischen Version des Dschungelcamps zum Deppen gemacht hat. Lieber würde | |
ich mit 40 überparfümierten Ü-Vierzigerinnen „Marläähn, eine von uns bei… | |
muss nun gäääähn“ plärren als hier in einem Zirkuszelt am Weißenhäuser | |
Strand mit 400 Semiintellektuellen in der Midlife Crisis: „Ich möchte Teil | |
einer Jugendbewegung sein“. | |
Warum gräbt der Sänger und Dichter Dirk von Lotzow diesen Hit aus den | |
neunziger Jahren ausgerechnet hier aus? Jugend? Bewegung? Die kollektive | |
Regression treibt mir die Fremdschamesröte ins Gesicht. Ist das wirklich | |
der gleiche Dirk von Lotzow, der im wunderbaren Lied „Im Zweifel für den | |
Zweifel“ gleichzeitig mein Lebensgefühl zu einhundert Prozent auf den Punkt | |
gebracht und dafür eintausend Scrabble-Punkte gesammelt hat? Für | |
Tocotronic-Laien: „Im Zweifel“ ist als der Song mit den meisten Z aller | |
Zeiten in die Musikgeschichte eingegangen. | |
Als nach einer Ewigkeit die jugendbewegte Folter endlich vorbei ist, trifft | |
der Blick des Sängers auf meinen. Mein Blick: „Du hast bei mir verschissen, | |
Lotzow!“ Sein Blick: „Wart’s ab!“ Seine Stimme: „Und nun ein Lied von… | |
neuen Platte. Es heißt ’Im Keller‘ und handelt vom Altern.“ Mein Blick: | |
„Gerade noch mal die Kurve gekriegt, Alter.“ | |
Letzte zaghafte Zweifel zerstreut zu ziemlich zpäter Ztunde um zehn vor | |
zwei die zweite Zugabe: „Im Zweifel für den Zweifel, den Zauder und den | |
Zorn“. Zauberhaft. | |
4 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Joachim Frisch | |
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