# taz.de -- Die Wahrheit: Heringssalat und andere Unwägbarkeiten | |
> Die Weihnachtsbräuche seien in Deutschland von Region zu Region | |
> unterschiedlich, stellte unser schwedischer Freund voriges Jahr | |
> überrascht fest. | |
Die Weihnachtsbräuche seien in Deutschland von Region zu Region durchaus | |
unterschiedlich, stellte unser schwedischer Freund Bengt voriges Jahr | |
überrascht fest. Wir befürchteten einen langweiligen Vortrag über | |
Krippenspiele, Christvesper, Sternsinger und erzgebirgische | |
Holzschnitzereien, aber die Angst war unbegründet. | |
Bengt war vor einigen Jahren nach Gottmadingen am Bodensee gezogen, weil | |
dort sein Freund Horstpeter und dessen Frau Gerlinde sowie deren Mutter | |
Gerda lebten. In dem Mietshaus, in dem sie wohnten, war die Nachbarwohnung | |
frei geworden, und sie war preiswert, denn Gottmadingen mit seinen 10.000 | |
Einwohnern gehört nicht zu den bevorzugten deutschen Standorten, zumal der | |
ehemals größte Arbeitgeber, die Maschinenfabrik Fahr, vor fünf Jahren | |
dichtgemacht und eine Industriebrache hinterlassen hat. | |
Horstpeter und Gerlinde luden Bengt jedenfalls zur traditionellen | |
Heiligabendfeier ein. Leider meinten sie nicht die kulinarisch reizvollen | |
badischen Traditionen, sondern die aus ihrer früheren nordostdeutschen | |
Heimat. Es gab eine Schüssel voller Heringssalat. Außer dieser tiefroten | |
matschigen Masse aus allerlei Zutaten, die wohl gerade zur Hand waren, gab | |
es nichts. | |
Die Geschichte des Heringssalats sei noch unerforscht, aber die | |
Heringsmahlzeit zum Jahresende habe offenbar etwas damit zu tun, dass | |
Fische früher als Glückssymbol galten, vermutet die Kulturhistorikerin | |
Petra Foede. Für Fremde sei die nordostdeutsche Begeisterung für | |
Heringssalat aber nicht unbedingt verständlich, und für Bengt war sie es | |
auch nicht. Allerdings hätte er damit leben können, hatte er doch eine | |
Tiefkühlpizza für Notfälle im Gefrierschrank. Doch der Abend nahm eine | |
unerwartete Wendung. | |
Aus der Küche drang ein lautstarker Streit zwischen Horstpeter und | |
Gerlinde, deren Ursache sich Bengt nicht erschloss, doch Horstpeter verließ | |
wutenbrannt die Wohnung. Kurz darauf verschwanden auch Gerlinde und ihre | |
Mutter Gerda zur Weihnachtsmesse, so dass Bengt mit dem Heringssalat und | |
Gerlindes Bruder zurückblieb. Der Bruder hatte aber kurz zuvor einen | |
Schlaganfall erlitten und war weder zu irgendeiner Kommunikation, noch zum | |
Verspeisen des Heringssalats fähig. So saß man drei Stunden lang schweigend | |
am Tisch und starrte andächtig auf die Salatschüssel. | |
Dann tauchten Gerlinde und Gerda, geläutert vom Kirchgang, wieder auf, und | |
kurz darauf kam auch Horstpeter zurück. Der war jedoch keineswegs | |
geläutert, sondern schmollte noch immer, räumte den Heringssalat in die | |
Küche und erklärte die Heiligabendfeier für beendet. Bengt hatte zu Hause | |
dann noch einen schönen Abend mit Tiefkühlpizza und einer Flasche Whiskey. | |
Wo er dieses Jahr Heiligabend feiern würde, wollten wir wissen. In | |
Gottmadingen bei Gerlinde und Horstpeter, sagte er. Es solle alles | |
friedlich verlaufen, habe Horstpeter versprochen. Und dem Bruder gehe es | |
schon besser. Was gibt es dieses Jahr zu essen? „Heringssalat“, sagte | |
Bengt. „Wegen der Tradition. Die Notfallpizza ist bereits besorgt.“ | |
24 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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