# taz.de -- Integration: "Du stehst da wie eine Banane" | |
> Vor 20 Jahren begann Mecit Çetinkaya in Hamburg-Finkenwerder Boxtalente | |
> zu trainieren. Einer seiner Schüler kämpfte als Profi sogar um den | |
> Weltmeistertitel. | |
Bild: Seine Talente wurden vom Deutschen Boxsport-Verband lange Jahre ignoriert… | |
An der Wand der Geschäftsstelle hängt die Vereinsfahne des | |
Männerturnvereins Finkenwärder. So schrieb sich die Elbinsel 1893 als der | |
Turn- und Sportverein gegründet wurde. Seit 20 Jahren trainiert Mecit | |
Çetinkaya hier junge Boxer mit meist ausländischen Wurzeln. Der 43-Jährige | |
hat zwei Fotoalben mit Zeitungsausschnitten aus zwei Jahrzehnten | |
Boxabteilung auf den Tisch unter der Fahne gelegt. | |
„Der hier ist Mahir Oral“, sagt Çetinkaya und tippt auf das Bild eines | |
jungen Mannes. „War bei einem Jugendkampf.“ Oral wurde Profi, nennt sich | |
seitdem „The Lion“, der Löwe. Von 34 Kämpfen gewann er 28, elf davon durch | |
K.o. Der Löwe boxte gegen Artur Abraham und Sebastian Sylvester um den | |
Weltmeistertitel, aber von Çetinkaya darf man keine Lobeshymnen auf den | |
bekanntesten Boxer aus Finkenwerder erwarten. „Ich bin immer noch nicht | |
damit einverstanden, dass er damals seine Lehre als Bauschlosser nicht zu | |
Ende gemacht hat“, sagt sein ehemaliger Trainer über den heute 32-Jährigen. | |
Çetinkaya bringt den Jungs in Finkenwerder nicht nur das Boxen bei, sondern | |
hilft ihnen auch dabei, einen Beruf zu lernen. Er greift ein, wenn einer | |
seiner Boxer Probleme hat, eine Lehrstelle zu finden. Er kann mittlerweile | |
viele Arbeitgeber ansprechen, die mit seinen Boxschülern gute Erfahrungen | |
gemacht haben. Und eine Ausbildung ist für Çetinkaya mehr als nur eine | |
pädagogische Maßnahme. Beim Boxen, auch im Amateurbereich, gäbe es immer | |
wieder Kämpfer, die nach ihrer Karriere abgestürzt seien. „Du nimmst den | |
Sport einige Jahre sehr ernst und irgendwann ist alles weg“, sagt | |
Çetinkaya. „Das ist bei uns noch nicht passiert.“ 2010 hat er für sein | |
Engagement den Bürgerpreis des Bezirksamts Hamburg-Mitte für herausragende | |
Integrationsarbeit bekommen. | |
Die Çetinkayas stammen aus einem Bergdorf an der Schwarzmeerküste im | |
Nordosten der Türkei. Das liegt in etwa so weit weg von Çamburnu, dem | |
Schauplatz von Fatih Akins Dokumentarfilm „Müll im Garten Eden“, wie | |
Finkenwerder von Neuenfelde. Mit acht Jahren kam Çetinkaya nach | |
Deutschland, wo sein Vater bereits seit Ende der 60er Jahren gearbeitet | |
hatte. Er war zwölf als seine Familie auf die Elbinsel Finkenwerder zieht, | |
ganz in die Nähe der Gorch-Fock-Halle, wo er bis heute trainiert. Roter | |
Klinker, ein Fritz-Schumacher-Bau, gerade mal Platz für ein Basketballfeld. | |
Es gibt größere Sporthallen in Hamburg, aber für einen Zwölfjährigen ist | |
schon die Gorch-Fock-Halle riesengroß. Einmal sagt ein Mann zu Çetinkaya | |
und einem gleichaltrigen Freund, die vor der Halle stehen: „Ihr dürft da | |
nicht rein.“ Zehn Jahre später bekommt er einen eigenen Schlüssel. | |
Thomas Kielhorn, der Vorsitzende des TuS Finkenwerder, erlaubt ihm, die | |
Halle an den Wochenenden zu nutzen. Çetinkaya möchte etwas für die | |
Jugendlichen tun, für die es in Finkenwerder nicht viel gibt. Sie spielen | |
zusammen Fußball oder Volleyball, er organisiert Grillfeste und irgendwann | |
kommen an den Wochenenden regelmäßig fast 40 Jungs in die Halle. Einige | |
wissen, dass Çetinkaya früher in Wilhelmsburg geboxt hat. „Zeig uns, wie | |
das geht“, bitten sie ihn, hängen einen Boxsack auf und beginnen mit dem | |
Training. 1993 treten erstmals vier Kämpfer aus Finkenwerder bei den | |
Hamburger Jugendmeisterschaften in unterschiedlichen Gewichtsklassen an. | |
Vier Mal werden sie Hamburger Meister. „Waren wirklich große Talente | |
dabei“, sagt Çetinkaya. Die Jungs aus Finkenwerder holen auch bei den | |
Norddeutschen Meisterschaften Medaillen und werden zu attraktiven | |
Amateur-Kämpfen ins Ausland eingeladen. In Trabzon, der türkischen Hochburg | |
des Faustkampfes, boxen sie vor 5.000 Zuschauern. | |
Beim Deutschen Boxsport-Verband haben Çetinkayas Talente dennoch lange Zeit | |
keine Lobby. Aber an einem können sie schließlich nicht vorbei: Mahir Oral | |
wird Ende der 90er-Jahre mehrmals Norddeutscher Meister, holt Silber und | |
Bronze bei den Deutschen Jugendmeisterschaften. „Sie können sich nicht | |
vorstellen, wie schwierig es war, den Jungen ins Nationalteam zu bekommen“, | |
sagt sein ehemaliger Trainer. „Bis es irgendwann zu offensichtlich wurde, | |
dass er besser war als andere.“ | |
Alle paar Wochen schaut Oral bei seinem ehemaligen Verein vorbei, beim | |
alljährlichen „Insel-Cup“ im November war er Ehrengast. Fatih Akin hat die | |
Idee für einen Film über den jungen Boxer aus Finkenwerder im Kopf. Beim | |
WM-Kampf gegen Sebastian Sylvester unterstützte er seinen Kumpel in dessen | |
Ringecke. Die meisten Jugendboxer waren mit der grün-weißen Vereinsflagge | |
im Gepäck ebenfalls nach Rostock gefahren. „Sie sind zwar teilweise | |
irgendwo anders geboren, aber sie identifizieren sich mit ihrem Stadtteil | |
und das finde ich großartig“, sagt Çetinkaya. | |
Es sind Jungs wie der 14-jährige Alen Degirmenci, der früher Fußball | |
gespielt hat ehe er zum Boxen kam. „Im Ring stehe ich allein, aber ich | |
gewinne auch allein den Pokal“, sagt er. Und genau das sind für Mecit | |
Çetinkaya die prägenden Erfahrungen beim Boxen. „Zu sehen, Mensch, ich bin | |
ja auch was wert. Auch wenn ich in der Schule nur Vieren oder Fünfen | |
schreibe.“ Wenn man sich ein bisschen einsetze, ohne etwas vorauszusetzen, | |
bekomme man etwas zurück – das haben er und seine Trainerkollegen immer | |
wieder erlebt. | |
Rund 50 Mitglieder hat die kleine Boxsparte, 2.500 der ganze Verein. Neben | |
den Jugendlichen sind es auch Postboten, Barkassenführer oder Angestellte | |
von Airbus, die sich beim Boxtraining fit halten. Und bei den Jüngsten sind | |
wieder einige dabei, die später Medaillen holen können. | |
Mecit Çetinkaya packt die Fotoalben zusammen und holt den Schlüssel aus der | |
Sakkotasche. Über dem Portal der Halle steht der Name des Heimatdichters | |
aus Finkenwerder, nach dem auch das Schulschiff der Bundesmarine benannt | |
ist – Gorch Fock. In der Halle hängen acht Sandsäcke von der Decke. Der | |
Geräteraum ist mit Kampfplakaten aus den vergangenen 20 Jahren tapeziert. | |
Schwerin, Hamburg-Wandsbek, Izmir, Schönebeck. Zeitungsausschnitte auf | |
Türkisch und Deutsch. | |
Çetinkaya setzt sich auf einen Wagen mit Turnmatten, ballt die Fäuste fürs | |
Foto, so dass man seinen Ring an der rechten Hand sehen kann. Er erzählt, | |
wie es ist, wenn ein Talent vor einer Meisterschaft absagt, weil er | |
arbeiten muss. „Du stehst da wie eine Banane“, sagt er. Der Trainer in ihm | |
ärgere sich, weil sie ein Jahr gearbeitet haben. „Aber dann macht es kling | |
und ich sage zu dem Jungen: Ist schon richtig.“ | |
4 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Matthias Greulich | |
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Boxen | |
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