# taz.de -- Die Wahrheit: Opa auf der Gegenspur | |
> Aus dem Leben eines Linkshänders. | |
Wenn draußen der Regen fällt und der kalte Wind um das Haus heult, wenn die | |
letzten Weihnachtsnüsse im Nussknacker knirschen und das warme Kaminfeuer | |
lustig flackert und knistert, dann macht es sich Opa Holger im großen | |
Ohrensessel gemütlich, zündet sich ein Pfeifchen an und breitet eine Decke | |
über seine Knie. All seine Enkelchen lagern sich ihm zu Füßen und warten | |
auf die allabendliche Geschichte vor dem Einschlafen. Dann erhebt Opa | |
Holger seine gutmütige Stimme und beginnt, einen Schwank aus seinem Leben | |
zu erzählen. | |
„Ihr wisst ja vielleicht, liebe Kinderchen, dass euer lieber Opa Holger ein | |
Linkshänder ist. Und weil Linkshänder stets links und rechts verwechseln, | |
kann es dabei zu lustigen Situationen kommen. Und von einer solchen möchte | |
ich euch heute erzählen. | |
Es war vor vielen Jahren, ich war noch ein ganz junger Mann, da begab es | |
sich, dass ich tief in der Nacht mit meinem Auto unterwegs war. Es war ein | |
wunderschöner, gestohlener, roter Volvo, den ich sehr liebte und von dem | |
ich noch heute ein Foto in meinem Portemonnaie habe. Mir war in jener Nacht | |
sehr daran gelegen, nicht entdeckt zu werden, denn ich hatte auf der | |
Rückbank mehrere illegale Maschinengewehre und Schwerter liegen. Auch fuhr | |
ich ohne Führerschein, denn ich habe ja nie einen gemacht. Das | |
Handschuhfach war voller Koks, und im Kofferraum – ihr ahnt es schon – lag | |
die blutüberströmte Leiche des Liebhabers eurer lieben Oma.“ | |
An dieser Stelle blickt Opa Holger zwinkernd zu Oma Trude, die gerade | |
Kartoffeln für den nächsten Tag schält und verschmitzt schmunzelt. Und Opa | |
Holger fährt fort: | |
„Folglich wäre mir eine Polizeikontrolle, deren es in jenen Tagen reichlich | |
gab, ausgesprochen unangenehm gewesen. Deshalb fuhr ich ohne Licht. Es | |
herrschte dichter Nebel, was ich zunächst für einen Vorteil hielt und was | |
sich bald als Nachteil erweisen sollte. Ich konnte nämlich beinahe | |
überhaupt nichts sehen. Ich bin stark kurzsichtig, trug damals aber aus | |
Tarnungsgründen keine Brille. Schon auf dem Weg zum Autobahnzubringer | |
schärfte ich mir ununterbrochen ein: ’Links ist die Auffahrt zur Autobahn | |
für mich, rechts ist die Ausfahrt der Autobahn für die anderen.‘ Klar, dass | |
das schiefgehen musste.“ | |
Die Enkelchen kichern in freudiger Erwartung, denn jetzt wird es bestimmt | |
lustig werden. | |
„Als sich der Zubringer dann in Auf- und Ausfahrt teilte, fuhr ich – wie | |
ich es mir eingeschärft hatte – nach links. Das wunderschöne Gefühl des | |
Glücks und des Stolzes darüber, dass ich es geschafft hatte, links und | |
rechts diesmal nicht zu verwechseln, wich bald einer ersten Verwirrung. Es | |
dauerte keine drei Minuten, bis mir ein entgegenkommendes Fahrzeug laut | |
hupend erst im letzten Augenblick auswich. ’Idiot!‘, fluchte ich noch, da | |
rasierte mir schon der nächste Wagen den rechten Seitenspiegel ab. Ich war | |
gezwungen, mich ganz links an den Straßenrand zu quetschen. | |
Als dann auch noch ein drittes Auto in Gegenrichtung an mir vorbeiraste, | |
glaubte ich nicht mehr an einen Zufall. Mir ging ein Licht auf: Links und | |
rechts hatte ich tatsächlich richtig ausgemacht, aber ich hatte die Auf- | |
mit der Ausfahrt verwechselt. Ich war der Geisterfahrer, nicht die anderen! | |
Als mir das bewusst wurde, musste ich sehr lachen. Was war ich doch für ein | |
lustiger Trottel.“ | |
Die Enkelchen klatschen in die Hände und schlagen Purzelbäume vor Wonne und | |
Vergnügen und rufen immer wieder: „Opa Holger kennt die besten | |
Geschichten!“ | |
„Das musste ich unbedingt jemandem erzählen“, fährt nun Opa Holger fort. | |
„Drum fuhr ich die nächste Polizeistation an und berichtete den Beamten | |
unter Lachtränen von meinem Abenteuer. Die Beamten lachten fröhlich mit, | |
durchsuchten mein Auto und sperrten mich ein. Ein ärztlicher Gutachter fand | |
heraus, dass ich komplett irre bin, wie fast alle Linkshänder, und man | |
steckte mich lebenslang in eine Irrenanstalt. Und deshalb, liebe Kinder, | |
gibt es euch gar nicht, euch bilde ich mir nur ein. Genau wie Oma Trude und | |
dieses gemütliche Wohnzimmer. Aber deshalb habe ich euch nicht weniger | |
lieb. So und jetzt ist aber endgültig Schlafenszeit. Gute Nacht!“ | |
Opa Holger schluckt seine Pillen, macht das Licht aus und legt sich | |
schlafen. Gute Nacht, Opa Holger! | |
11 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |