# taz.de -- Die Wahrheit: Soziales Kotzwerk | |
> Der neueste Trend bei Fressepuff ist brutaler Realismus. Eine | |
> Wahrheit-Reportage aus dem Dunkel des Netzes. | |
Holger Sanddorn sitzt am Rechner und lädt Fotos seiner fetten, einäugigen | |
Katze in seinen Facebook-Account, während das Tier selber röchelnd zu | |
seinen Füßen hockt und eine glitschig-haarige Wurst hervorwürgt, die kurz | |
darauf ebenso liebevoll abfotografiert und gepostet wird. | |
„Es geht darum, der Flut von niedlichen Katzenfotos auch mal etwas | |
entgegenzusetzen. Meine Katze ist nicht süß: Sie ist alt und stinkt. Genau | |
wie ich. Das ist halt nun mal Fakt.“ | |
Und tatsächlich stellt Sanddorns Heim, eine kleine Einzimmerwohnung am | |
Bitterfelder Weg, eine olfaktorische Herausforderung dar: abgestandener | |
Altmännerduft liegt in der Luft, durchzogen von Rauchschwaden und getränkt | |
mit mehr als dem Hauch von inkontinenter Katze. | |
„Schade, dass man Gerüche nicht hochladen kann“, bedauert Sanddorn, denn | |
der Frührentner engagiert sich leidenschaftlich für sozialen Realismus in | |
sozialen Netzwerken. Mehrmals täglich postet Holger Sanddorn deswegen | |
Neuigkeiten aus seinem extrem unglamourösen Leben, dokumentiert seine | |
prekäre wirtschaftliche Lage ebenso penibel wie den körperlichen Verfall. | |
Die zahlreichen Fotos seines chronisch vereiterten Auges und des wuchernden | |
Pilzes im Nagelbett füllen mittlerweile ein ganzes Album. „Ich zeige meine | |
Wunden“, heißt es, und Sanddorn will seine hochnotpeinliche Nabelschau denn | |
auch als künstlerische Arbeit verstanden wissen. Sein Profilbild zeigt ihn | |
in der Pose des Schmerzensmanns: Den Kopf leicht geneigt, mit dem Finger | |
auf ein nässendes Ekzem am entblößten Oberkörper weisend, schaut er den | |
Betrachter unverwandt an. | |
„Es ist Passionsarbeit“, behauptet Sanddorn. „Auch für mich ganz | |
persönlich, immerhin habe ich eine Katzenhaarallergie. Aber ich leide, | |
damit andere genesen können.“ | |
Für sein Projekt hat Sanddorn den einträglichen Beruf des | |
Kommunikationstrainers aufgegeben, seinen gesamten Besitz der | |
Bahnhofsmission vermacht und in monatelanger, aufreibender Körperarbeit | |
jenen beklagenswerten Gesundheitszustand erreicht, den er nun so | |
hingebungsvoll ausstellt. | |
„Früher musste man noch Hochglanzillustrierte lesen, um sich wertlos und | |
abgehängt zu fühlen, heute reicht ein Blick in soziale Netzwerke. Nun ja, | |
es heißt ja nicht umsonst Statusmeldung“, redet sich Sanddorn in Rage. | |
„Schauen Sie sich doch mal die Postings dieser sogenannten Freunde an. Bloß | |
berufliche Erfolgsmeldungen, neue Rekorde beim Workout, Berichte über | |
geradezu irritierend putzige Haustiere und wohlgeratene Kinder, bezeugt | |
durch einen Aufwand an fotografischer Handwerkskunst, der früher bloß für | |
Hochzeitsfotos betrieben wurde. Das führt doch zu einem irrsinnigen | |
Erfolgsdruck, dabei sind diese Jubelmeldungen so verlässlich wie | |
Wehrmachtsberichte nach vierundvierzig und meist sogar in einem ähnlich | |
hysterischen Ton verfasst.“ | |
Sanddorns Finger umklammern eine speckige Maus, als er die Seite | |
herunterscrollt. „Dazu alle paar Stunden Fotos von Mahlzeiten, mit denen | |
man jederzeit ein Sternerestaurant beliefern könnte. So stellen die Leute | |
ihr Leben dar, dabei sieht es in Wirklichkeit doch eher so aus …“ | |
Sanddorn hebelt eine Dose Ravioli auf, lässt einen ungespülten Löffel | |
hineingleiten, drapiert das Ensemble auf einem gewaltigen Berg gebrauchter | |
Pizzakartons und lichtet es schließlich ab. „Mittachessen“, schreibt er | |
unter das Foto. 3.789 Teilnehmer finden das innerhalb weniger Sekunden gut. | |
Denn aus Sanddorns Beispiel ist längst ein Trend geworden. Eine wachsende | |
Gruppe Getreuer feiert die Resignation als neues Lebensgefühl und versucht | |
sich gegenseitig mit den ausdrucksvollsten Augenringen und ausgefallensten | |
Malaisen zu übertrumpfen, während ihre hauptsächlich in Sonettform | |
abgefassten Einträge allesamt von der Sinnlosigkeit und Nichtigkeit des | |
eigenen Daseins künden. Überhaupt spielt das Vanitas-Motiv eine große | |
Rolle: Ununterbrochen werden Fotos überfahrener Kätzchen hochgeladen, die | |
mit pompösen Sinnsprüchen wie „Sic transit gloria mundi“ unterlegt werden. | |
Holger Sanddorn allerdings ist während unseres Besuchs regelrecht | |
aufgeblüht. Rasend schnell hat sich sein modrig riechender Fußpilz | |
zurückgebildet. Die gelbliche Schicht auf dem Nagel des großen Zehs ist | |
abgesplittert, rosig kommt junges, frisches Fleisch zum Vorschein. Und das | |
macht Sanddorn schwer zu schaffen. Wie soll er noch seiner Mission | |
nachgehen, wenn er plötzlich durch den Kontakt mit uns beinahe gesundet? Er | |
ist es eben nicht mehr gewöhnt, mit realen Personen zu kommunizieren. Und | |
so komplimentiert er uns eilig zur Tür hinaus. Denn er hat noch ein großes | |
Werk vor sich, wie er uns versichert: „Irgendwer muss den Job ja machen.“ | |
28 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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