| # taz.de -- Das Montagsinterview: „Anzüge sind Verkleidung“ | |
| > Stephan Reifenrath verkaufte Luxus-Anlagen. Vor drei Jahren zog er ins | |
| > sozial schwache Wilhelmsburg, wo er nun das 100 Jahre alte Rialto-Kino | |
| > neu eröffnen will. | |
| Bild: Hat genug vom Anzug-Tragen: Stephan Reifenrath im Saal des alten Rialto-K… | |
| taz: Herr Reifenrath, warum wollen Sie die Rialto Lichtspiele neu eröffnen, | |
| wenn doch gerade so viele Traditionskinos in Hamburg Schwierigkeiten haben, | |
| sich über Wasser zu halten? | |
| Stephan Reifenrath: Es geht nicht darum, Geld zu verdienen - vielmehr | |
| betrachte ich es als ein Kunstprojekt für diesen Sommer. Dauerhaft können | |
| wir es uns finanziell nicht leisten, das Rialto zu betreiben. Das Kino ist | |
| in seiner Gesamtstruktur einfach so alt, dass man sehr viel Geld | |
| investieren müsste. | |
| Den Sommer über wird der Stadtteil Wilhelmsburg geprägt sein von der | |
| Internationalen Gartenschau der Internationalen Bauausstellung, es werden | |
| viele Tausend Besucher erwartet. Was geschieht nach diesem Sommer mit dem | |
| Kino? | |
| Wir sind ergebnisoffen. Wenn jemand kommt und sagt, er möchte das Gebäude | |
| sanieren, um ein Kulturhaus daraus zu machen, dann sind wir einverstanden, | |
| es ihm gegen eine Kostenerstattung zur Verfügung zu stellen. Ich bin | |
| sicher, dass in diesem Sommer ganz viel passieren wird. Ich werde vielen | |
| Menschen begegnen und es werden neue Perspektiven entstehen. | |
| Welche kulturellen Projekte planen Sie für das Kino? | |
| Wir machen Theater, Musik, Literatur und Kino. Für diese Bereiche gibt es | |
| vier Kuratoren, die sich um den Programminhalt kümmern. Im Bereich Kino | |
| geht es darum, sowohl aktuelle Blockbuster zu zeigen, als auch historische | |
| Filme und Filme in den Originalsprachen. Denn wir leben hier in einem | |
| Stadtteil mit 80 verschiedenen Kulturen. Wir alle wollen unsere kulturellen | |
| Bedürfnisse befriedigen. | |
| Wie wollen Sie das Kino sanieren? Soll der nostalgische Charme erhalten | |
| bleiben? | |
| Na klar, wir wollen den alten Bestand genau so belassen. Wenn Sie | |
| hineingehen, bekommen sie sofort ein Gefühl von Nostalgie. Da entsteht eine | |
| Sehnsucht. Wenn wir jetzt anfangen würden, das Gebäude zu Tode zu | |
| renovieren, bliebe von diesem Gefühl nichts mehr übrig. | |
| Wird es in Ihrem Kino Popcorn geben? | |
| Popcorn begleitet Kino seit den 50er Jahren, das ist ein Klassiker und muss | |
| sein. Was ich abgelehnt habe, ist, Nachos zu verkaufen. Wir wollen | |
| versuchen, alles so natürlich wie möglich zu halten. Das ist ein altes | |
| Haus, dem man nicht diese ganzen modernen, kommerziellen Dinge aufstülpen | |
| kann. Allein im technischen Bereich werden wir das Kino modernisieren. | |
| Engagieren Sie sich auch in anderen Wilhelmsburger Stadtteilprojekten? | |
| Nein. Ich bin ein Typ, der Sachen auf eine eigene Art und Weise und mit | |
| einer mir entsprechenden Geschwindigkeit erledigen muss. Gremienarbeit | |
| dauert in der Regel länger, als ich Geduld habe. Ich will ein unabhängiges | |
| Stadtteilprojekt entwickeln, das nicht so vieler unterschiedlicher | |
| Entscheidungsebenen bedarf. | |
| Noch vor ein paar Jahren haben Sie im Nobel-Stadtteil Eppendorf gewohnt und | |
| einen Laden für hochpreisige HiFi-Anlagen geführt. Was hat Sie nach | |
| Wilhelmsburg gezogen? | |
| Das Wichtigste für mich ist das Pulsieren in diesem Stadtteil. Wenn man | |
| hierher kommt, hat man sofort das Gefühl, dass sich hier viel bewegt, dass | |
| noch Raum für Entwicklung ist. Mir gefällt die Direktheit der Menschen im | |
| Umgang untereinander. In Eppendorf war es ganz anders. Das Leben dort ist | |
| stark geprägt von Glaubenssätzen: Man muss ein teures Auto fahren und es | |
| muss der Kinderwagen von soundso sein. Dieser ganzen überentwickelten | |
| Geschichte wollte ich einfach entkommen. | |
| Heute betreiben Sie ein Unternehmen, welches Wohnungen von gut betuchten | |
| Privatpersonen technologisch aufrüstet. Noch in den 80er, 90er Jahren | |
| hatten Sie einen Schallplattenladen namens „Checkpoint Charly“. Was ist aus | |
| ihm geworden? | |
| 1985, als ich 17 war, habe ich als unentgeltliche Aushilfe in diesem Laden | |
| angefangen und drei Jahre später eine Ausbildung gemacht. Der damalige | |
| Besitzer war so etwas wie mein Ziehvater. Ich hatte eine ganz enge | |
| Verbindung zu diesem Mann. Ich hatte eine bewegte Jugend, bin so ein | |
| klassisch hoffnungsloser Fall gewesen, aber er hat mir den Weg in mein | |
| berufliches Leben gezeigt. | |
| Von 1988 bis 1994 haben wir das Geschäft zusammen betrieben. Dann ist er | |
| ganz überraschend gestorben. Bis dahin hatte ich schon die Hälfte des | |
| Geschäfts als Anteilseigner erworben, die zweite Hälfte hat er mir vererbt. | |
| Nach einigen Jahren habe ich festgestellt, dass dieses Kapitel mit dem Tod | |
| meines Partners für mich abgeschlossen war. Ich bin ein Dekadentyp. Ich | |
| verändere mein Leben ungefähr alle zehn Jahre relativ grundlegend. Deswegen | |
| habe ich das Geschäft 1999 verkauft und ein neues aufgemacht. | |
| Haben Sie weiterhin Schallplatten verkauft? | |
| Nein, der zweite Teil von „Checkpoint Charly“ war ein Geschäft für | |
| Unterhaltungselektronik. Den habe ich mitgenommen und ihn dann in den | |
| Colonnaden betrieben. Dort wollte ich die Idee „Luxus“ auf die Spitze | |
| treiben. Wir haben teure HiFi-Anlagen verkauft und angefangen, | |
| Haussteuerungssysteme zu bauen. | |
| Wann war dann diese Dekade zu Ende? | |
| Das war 2009. Mit dem Umzug nach Wilhelmsburg und dem Wechsel vom | |
| Luxusleben in der Innenstadt zum einfachen Leben auf der Insel habe ich | |
| mich noch mal vollständig gehäutet. Ich hatte keine Lust mehr auf die | |
| Arbeit in den Colonnaden. Ich wollte diesen Apparat nicht mehr, keine | |
| Anzüge mehr tragen. Das hatte ich zehn Jahre gemacht. | |
| Relativ schnell hab ich dann die Colonnaden aufgegeben und das ganze | |
| Unternehmen nach Wilhelmsburg gezogen. Das war die richtige Entscheidung, | |
| weil sich irgendwann der Blick so verengt. Sobald ich etwas verändere, geht | |
| das Sichtfeld wieder auf und ich begreife die Welt neu. | |
| Tragen Sie jetzt gar keine Anzüge mehr, auch dann nicht, wenn Sie Kunden | |
| eine 100.000 Euro teure Lichtanlage verkaufen? | |
| Nö, ich denke, ein Anzug ist eine Verkleidung. Ich verzichte ganz bewusst | |
| darauf, konfrontiere die Menschen damit, wer ich bin. Ich gehe da genauso | |
| einfach angezogen hin, wie wir beide uns jetzt gegenüber sitzen. Leben und | |
| Arbeit sind bei mir ganz eng verknüpft. Das macht mich sehr glücklich. Ich | |
| habe keinen klassischen 9-to-5-Job, ich arbeite auch mal mitten in der | |
| Nacht und beschäftige mich immer mit mehreren Projekten und Ideen | |
| gleichzeitig. | |
| Wenn Leben und Arbeit so eng zusammenhängen, haben Sie dann so etwas wie | |
| Hobbys? | |
| Yamaha-Mopeds sind meine Leidenschaft. Ich bin als 16-Jähriger so ein Moped | |
| gefahren und habe es sehr geliebt. Jetzt habe ich eine kleine | |
| Sammelleidenschaft entwickelt. Ich habe drei Stück und damit knattere ich | |
| durch die Gegend, fahre im Sommer übers Land. Das ist für mich ein Stück | |
| Freiheit. Dann habe ich mir auch noch irgendwann ein kleines Boot gekauft, | |
| um zu sehen, wie die Stadt eigentlich aus der Wasserperspektive aussieht. | |
| Später habe ich dann zusammen mit einem Freund eine gemeinsame Bootsfirma | |
| gegründet. Wir importieren und verkaufen finnische Aluminiumboote. In | |
| diesem Fall ist das Hobby eben auch zum Beruf geworden. | |
| Wachsen Ihnen die vielen Baustellen nicht über den Kopf? | |
| Im Moment funktioniert es. Ich arbeite aber auch noch einmal die Woche als | |
| freiwilliger Küchenjunge in einer Restaurantküche. Jetzt baue ich für die | |
| Inhaberin gerade ein neues Restaurant. | |
| Freiwilliger Küchenjunge heißt, sie arbeiten unentgeltlich? | |
| Natürlich. Dabei geht es mir nicht ums Geld, es ist für mich eine große | |
| Ehre, dort zu sein. Ich habe die Inhaberin über einen gemeinsamen Freund | |
| kennengelernt, wir haben zusammen gekocht, gegessen und uns angefreundet. | |
| Irgendwann habe ich sie gefragt, ob ich in ihrer Küche anheuern darf. Meine | |
| Motivation ist es, zu erfahren, ob ich mit 45 noch eine 12-Stunden-Schicht | |
| schieben kann. Außerdem bin ich gerne an Plätzen, die mich durchströmen. | |
| Ich will einfach spüren, wie es sich anfühlt, in einem Team zu sein, mit | |
| den Lebensmitteln umzugehen, zu riechen, zu schmecken, zu fühlen. Ich will | |
| das jetzt noch eine ganze Weile machen, das habe ich mir fest vorgenommen. | |
| Davor habe ich fünf Jahre Tango tanzen gelernt. | |
| Gibt es etwas, was Sie in der Zukunft reizen würde? | |
| Für mich ist das ganze Leben wie eine Straße, an der ganz viele Bäume | |
| stehen, an denen Möglichkeiten hängen. Was da in Zukunft kommt, weiß ich | |
| nicht. Ich weiß nur, dass ich vorbeigehe und etwas sehe, das ich schön | |
| finde. Dann bleibe ich eine Zeit lang stehen und gehe dann weiter. Ich | |
| ergreife nur Möglichkeiten, die sich mir bieten. Ich habe kein Ziel. | |
| 28 Jan 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Gipp | |
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