# taz.de -- Weight Watchers: Bei den anonymen Dicken | |
> Die Weight Watchers werden 50 Jahre alt. Friss die Hälfte? Nicht ganz. | |
> Die einstige Frauengruppe ist jetzt ein börsennotiertes Unternehmen. | |
Bild: Die Kandidatin hat 100 Punkte! Ehm, also auf der Weight-Watchers-Skala. | |
Kalorienbomben in der Kantine, Überstunden und Fressattacken – der alte Job | |
von Steffie K. bei einem bayerischen Automobilzulieferer bescherte ihr so | |
einige „Wohlstandspfunde“, wie sie sagt. „Ich war 30, Single und wurde | |
nicht warm mit den Bayern.“ Sie hat gegessen aus Frust. Zu viel gegessen. | |
Schweinebraten etwa, „mit Sauerkraut oder Rotkohl und Klößen. Immer Klöße! | |
Und das Fleisch – keine dünnen Scheiben, schön mit Kruste. War gut, kann | |
man nix sagen.“ | |
Nachdem sie 2011 zurück ins heimische Berlin gezogen war, wollte sie die | |
„bayrischen Pfunde“ wieder loswerden. Letztes Jahr hat die Doktorandin – | |
sie promoviert über die kommunale Wasserwirtschaft – in drei Monaten zehn | |
Kilo abgenommen. Wie? Keinen Saft aus der Tüte mehr. Dafür Gemüse, Gemüse. | |
Und die Weight Watchers dazu. „Ich wollte unbedingt mit anderen über den | |
Kampf beim Abnehmen sprechen.“ | |
Hungern musste sie nicht, ebenso wenig musste sie etwas essen, das ihr | |
nicht schmeckte. Bei den Weight Watchers kann man seine kulinarischen | |
Vorlieben beibehalten. Also mal Torte? So was ist drin. Bei Fressattacken | |
wird man aber, wo immer möglich, auf Obst und Gemüse umgeleitet. „An sich | |
ist es nicht schlecht bei den anonymen Dicken“, so nennt Steffie W. die | |
Weight Watchers und grinst. | |
Steffie W. ist eine von 250.000 TeilnehmerInnen des | |
Weight-Watchers-Programms bundesweit. Der Frauenanteil liegt bei 92 | |
Prozent. Laut Statistischem Bundesamt lag der Anteil der übergewichtigen | |
und adipösen Männer in Deutschland im Jahr 2009 bei 60 Prozent, verglichen | |
mit 43 Prozent bei den Frauen. | |
Weight Watchers sind irgendwo zwischen Gruppentherapie und systematischer | |
Ernährungsumstellung angesiedelt. Beide Elemente des Programms gehen auf | |
Jean Nidetch zurück. 1961 hatte die damals 38-Jährige aus Brooklyn ihr | |
Übergewicht satt: Bei einer Körpergröße von 170 Zentimeter wog sie 97 Kilo. | |
Nichts half. | |
## Pro Woche 45.000 Treffen | |
Nidetch suchte Rat bei einer städtischen Übergewichtsklinik und bekam eine | |
rigorose Ernährungsumstellung verschrieben. Ihren Versuch abzunehmen | |
behielt sie nicht für sich und fand – der Zufall wollte es so – | |
Mitstreiterinnen. Im regelmäßigen Austausch mit ihren Freundinnen schaffte | |
sie es, 33 Kilo abzunehmen. Innerhalb von wenigen Wochen waren Nidetchs | |
Treffen auf vierzig Teilnehmerinnen angewachsen. 1963 gründete sie Weight | |
Watchers International. Ein halbes Jahrhundert später, gibt es weltweit | |
jede Woche über 45.000 Treffen. | |
Bis heute beruht das Weight-Watchers-Prinzip auf Kalorienrestriktion, also | |
der Verringerung der täglich aufgenommenen Nährstoffmenge. Friss die | |
Hälfte? Nicht ganz. Der Kernpunkt des Programms ist das Point-System als | |
Schnittstelle zwischen dem individuellen Kalorienverbrauch und dem Nährwert | |
von Lebensmitteln. Bei Weight Watchers wird jedem Lebensmittel – je nach | |
Gewicht – ein Point-Wert zugewiesen. Wie dieser berechnet wird, ist | |
geistiges Eigentum. | |
Wer die Punktzahl auf Lebensmittel drucken will, der muss Lizenzgebühren | |
bezahlen, denn aus der Brooklyner Selbsthilfegruppe ist längst ein | |
international agierendes Börsenunternehmen geworden. Der Umsatz 2011: 1,8 | |
Milliarden Dollar. Die Haupteinnahmequelle: wöchentliche Beiträge der | |
Teilnehmenden. Dazu kommt der Verkauf von Weight-Watchers-Produkten während | |
der Sitzungen. Kalorienreduzierte Trockensaucen gibt es für 1,50 Euro, | |
Kochbücher mit Point-Werten für 12,95 Euro. Ein handtellergroßer | |
elektronischer Nährwertpunkterechner kostet 19,95 Euro. | |
## Obst und Gemüse: Null Punkte | |
Beim Einstieg in das Programm bekommt jede TeilnehmerIn von der | |
Gruppenleitung ein Tagesmaximum an Points, die er oder sie konsumieren | |
darf, je nach Geschlecht, Alter, Gewicht, Körpergröße und dem Grad | |
physischer Aktivität. In Steffie W.s Fall sind es 26 Punkte. Je höher der | |
Brennwert, desto mehr Points hat ein Lebensmittel. Obst und Gemüse haben | |
null Points. | |
Von diesem Wink mit dem Zaunpfahl mal abgesehen, bleibt allen selbst | |
überlassen, was genau sie essen, solange das Tagesmaximum nicht | |
überschritten wird. Das gefällt Steffie. „Ich kann essen, was ich will. Was | |
nützt mir eine Ernährungsberatung, wo man mir sagt, ich müsste mehr Ananas | |
essen, und ich hasse Ananas wirklich?“ | |
Für Susanne Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung ist die | |
„Punktezählerei“ der Weight Watchers „ernährungswissenschaftlich | |
einigermaßen fundiert.“ Und ein Abnehmprogramm sei bei Übergewicht schon | |
mal besser als gar kein Programm. | |
Doch so viel Struktur ist für manche zu viel: Die wöchentlichen | |
Weight-Watchers-Sitzungen mit Gruppendiskussionen und Verkündigungen von | |
Abnehmerfolgen – für monatlich 39,95 Euro – hat Steffie W. nach einer Weile | |
ausgeschlagen. Die Sitzungen zögen „einen bestimmten Schlag Mensch“ an: �… | |
sind immer Leute, die können einfach nicht die Fresse halten.“ | |
## „Alles ist schön, alles ist toll“ | |
Uta Scharf steht im Foyer einer Kirchengemeinde in Berlin hinter dem | |
Stehtisch an der Waage. „Alles ist schön, alles ist toll“, sagt sie. Früh… | |
hat sie Schmuck verkauft, heute leitet sie Weight-Watchers-Treffen. Auf dem | |
grauen Linoleumfußboden stehen fünf Stuhlreihen, 13 Frauen zwischen Anfang | |
30 und Mitte 60 sind gekommen. Als die Sitzung beginnt, dringen aus dem | |
Nebenraum Orgelklänge in Dur. | |
„Was sind Ihre Herausforderungen am Arbeitsplatz?“, fragt Uta Scharf. | |
„Süßigkeiten!“, sagt eine Teilnehmerin. Und dann gäbe es noch Kollegen, … | |
ungefragt Kuchen mitbrächten. Schon geht es los, Einzelerfahrungen werden | |
ausgetauscht, man diskutiert über unerwünschte Kalorienquellen und | |
Kochpläne für die Woche. Uta Scharf rät zu „Obstteller statt Keksteller im | |
Büro!“ | |
Der Erfolg der Gruppe und der einzelnen TeilnehmerInnen steht und fällt mit | |
dem Coach, sagt Uta Scharf. „Ich bin die Moderatorin, die jede Woche die | |
Teilnehmer durch ein Thema führt. Die Teilnehmerinnen sollen ja auch etwas | |
für ihr Geld bekommen. Jedem, der mit einer bestimmten Gruppe unzufrieden | |
war, kann ich nur raten, eine andere auszuprobieren.“ | |
Steffie W. hat sich gegen Gruppensitzungen entschieden. Sie wechselte ins | |
stetig wachsende Online-Programm, das kostet auch nur halb so viel. Sie | |
führt jetzt in ihrem Online-Account Buch über Mahlzeiten und Gewicht, die | |
immer gleichen Themen der Gruppendiskussionen sei sie los. | |
## Lebenslange Mitgliedschaft | |
Mit der Online-Mitgliedschaft bleibt Steffie W. allerdings die Aussicht auf | |
eine kostenlose „lebenslange Mitgliedschaft“ vorenthalten. Die bekommt man, | |
wenn man mindestens sechs Wochen lang sein eingangs vereinbartes | |
„Normalgewicht“ hält – und zuvor Vollmitglied war. „Die lebenslange | |
Mitgliedschaft kann mir gestohlen bleiben“, sagt Steffie. „Das alles | |
erinnert doch an eine Sekte. Man sitzt dann also da und macht Werbung für | |
Weight Watchers? Nein danke.“ | |
„Weight Watchers ist nun mal ein kommerzielles Programm, aber als solches | |
eines der besseren“, sagt Susanne Klaus vom Deutschen Institut für | |
Ernährungsforschung. „Allerdings funktionieren solche Programme nur, wenn | |
die Leute dabeibleiben.“ | |
„Wissenschaftler haben gut reden“, sagt Steffie W. Sie lässt das Programm | |
etwas schleifen. Schließlich ist Winter, es gibt wenig Sonne, man hat nicht | |
genug Energie, und Süßes hilft. Doch bald wird sie wieder rigoros mit ihren | |
Tagespunkten umgehen. Sie hat zu rauchen aufgehört. Die zehn Kilo sind | |
wieder da. | |
16 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Pavel Lokshin | |
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