# taz.de -- Der Spastiker Gerhard Schmitz über die Behindertenquote: „Die Ze… | |
> Der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft „Selbst aktiv“ in | |
> Schleswig-Holstein will jeden zehnten Gremiensitz für Leute mit Handicap. | |
Bild: Würde sich noch mehr Normalität wünschen: Gerhard Schmitz. | |
taz: Herr Schmitz, behindert ist man nicht, behindert wird man. Stimmt das? | |
Gerhard Schmitz: Nicht die körperliche Beeinträchtigung ist das Problem, | |
sondern dass die Gesellschaft es nicht schafft, Menschen mit Handicap so | |
einzubeziehen, dass sie am normalen Leben teilnehmen können. Das geht schon | |
in Schule und Kita los. | |
Sie selbst haben spastische Lähmungen und Sprachschwierigkeiten, eine Folge | |
von Sauerstoffmangel bei Ihrer Geburt. Wie war das bei Ihnen mit der | |
Schule? | |
Ein Arzt hat meine Schulreife festgestellt – aber gleichzeitig gesagt, dass | |
ich keine normale Schule besuchen könne. Also kam im ersten halben Jahr | |
zweimal die Woche eine Lehrerin ins Haus. 1967 wurde in Flensburg die erste | |
Sonderklasse für Kinder mit Körper- und Mehrfachbehinderungen eingerichtet. | |
Was war das damals für ein Gefühl, als „Behinderter“ abgestempelt zu | |
werden? | |
Ein ziemlich komisches. Ich hatte eine Lehrerin für mich ganz allein, aber | |
dafür keine Schulkameraden. Freunde im engeren Sinne hatte ich kaum. Die | |
Sonderklasse an der damaligen Sprachheilschule war der erste Schritt in | |
Richtung Normalisierung. Der erste Jahrgang dieser Schule bestand aus vier | |
Kindern, unter denen ich aufgrund meiner intellektuellen Fähigkeiten in | |
einer besonderen Situation war. Im Grunde habe ich weiter Einzelunterricht | |
erhalten. | |
Und dann? | |
Ich denke, ich gehöre zu den wenigen Kindern aus dieser Zeit, die auf dem | |
Weg über eine Sonderschule später einen Abschluss mit Hochschulreife | |
erlangt haben. Obwohl ich es geschafft habe, halte ich die Aussonderung | |
nach wie vor für den falschen Weg. Jedes Kind ist ein Individuum und sollte | |
nach seinen Möglichkeiten gefördert werden. Und zwar gemeinsam in einer | |
Schule. | |
Später haben Sie studiert. | |
Interessanterweise gibt es umso weniger Schwierigkeiten, je höher man | |
kommt. Ich habe mehrfach die Schule gewechselt, zuletzt war ich an einer | |
Einrichtung mit rund 1.000 Kindern mit verschiedensten Behinderungen, weil | |
es nur dort möglich war, Ausnahmegenehmigungen für Prüfungen zu erhalten. | |
Ich schreibe sehr langsam, also hätte ich für eine sechsstündige Klausur 24 | |
Stunden haben müssen. An der Fachhochschule Mannheim konnte ich alle | |
Klausuren als mündliche Prüfungen ablegen. Und für meine Diplomarbeit habe | |
ich problemlos eine Fristverlängerung bekommen. | |
Sie haben sogar gleich zwei akademische Abschlüsse erworben, in | |
Sozialpädagogik und in Erziehungswissenschaften. Hilft das dagegen, im | |
Alltag als „Doofie“ behandelt zu werden? | |
Ich habe es immer wieder erlebt, dass die Leute auf der Straße sich nach | |
mir umdrehen. Sie halten mich für besoffen oder geistig behindert. Und ganz | |
oft sprechen sie über mich hinweg mit Freunden oder Bekannten, die mit mir | |
zusammen unterwegs sind statt mit mir. | |
Was machen Sie in solchen Situationen? | |
Wenn ich mich jedes Mal ärgern würde, würde ich wahrscheinlich nicht mehr | |
hier sitzen. In diesem Fall helfen mir meine Einschränkungen: Da ich nicht | |
gut sehen und hören kann, erspare ich mir manche Unverschämtheiten, auf die | |
ich reagieren müsste. Wenn ich etwas mitbekomme, kann ich ziemlich happig | |
werden. | |
Ein Beispiel? | |
Ich habe mal in einem Fachgeschäft gefragt, wie ein Gasherd bedient wird – | |
ich hatte zum ersten Mal einen. Und die Verkäuferin sagte, das sollte ich | |
mal meinen Betreuer fragen. Da habe ich die Akademiker-Keule geschwungen | |
und erwidert, als Sozialpädagoge sei ich zwar selbst Betreuer, aber eben | |
kein Experte für Gasherde. Solche Geschichten zeigen mir, wie weit wir noch | |
weg sind von der Inklusion. | |
Inklusion heißt, alle Menschen mit ihren Schwächen als gleichrangig zu | |
betrachten. Ist das nicht illusorisch? | |
Ich sehe das ganz anders! Jeder hat eine Sozialisation durchlaufen, die | |
zeigt, dass es Nachteile bringt, anders zu sein. Die Individualität wird | |
uns ausgetrieben. Man müsste in der Kindheit ansetzen. | |
Sie sind Sozialdemokrat. Wann sind Sie in die SPD eingetreten – und warum? | |
1977, mit 17, voller Ideale und Zuversicht. Von meiner Gedankenwelt bin ich | |
ein 68er, Politik hat mich früh interessiert. Als ich zehn Jahre alt war, | |
habe ich die Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler bewusst erlebt. Mit | |
zwölf bat ich meine Lehrerin, ob ich im Radio die Debatten über das | |
Misstrauensvotum gegen ihn verfolgen könnte. | |
Was wurde aus der Zuversicht und der Parteikarriere? | |
Ich formuliere es mal so: Die lieben Genossen haben versucht, mich | |
einzubeziehen, aber nicht den Mut gehabt, jemandem mit meiner Art von | |
Behinderung Verantwortung zu übergeben. Aber das ist kein Problem der SPD, | |
sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Ich will meinen | |
Parteigenossen nichts vorwerfen, das die Gesellschaft insgesamt nicht | |
leistet. | |
Heute sind Sie ehrenamtlicher stellvertretender Behindertenbeauftragter der | |
Stadt Flensburg und Vorsitzender der SPD-Landesarbeitsgemeinschaft „Selbst | |
Aktiv“, die mehr Rechte für Behinderte einfordert, unter anderem auch zehn | |
Prozent der Sitze in Parteigremien und Fraktionen. Warum zehn? | |
„Selbst aktiv“ begann als Netzwerk, das 2002 in Hannover gegründet wurde. | |
Inzwischen gibt es in mehreren Ländern und auf Bundesebene | |
Arbeitsgemeinschaften. Die Quote von zehn Prozent entspricht dem Anteil von | |
Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft. Inzwischen sind es übrigens | |
schon zwölf Prozent. Ich habe unsere Forderung an den Vorsitzenden des | |
Landesverbandes weitergegeben: Ralf Stegner. | |
Was sagt der dazu? | |
Er wird sie an die zuständigen Gremien und den Parteitag weiterleiten. | |
Nehmen wir mal kurz an, die Welt wäre nicht perfekt: Mit welchem Argument | |
können Menschen mit Behinderungen die Mehrheitsgesellschaft überzeugen, sie | |
zu beteiligen? | |
Wenn wir es allein versuchen, haben wir keine Chance. Wir werden uns von | |
Fall zu Fall Mitstreiter suchen müssen. Es gibt inhaltlich große | |
Schnittmengen mit älteren Menschen: Barrierefreiheit hilft nicht nur | |
Menschen mit Behinderung, sondern allen, die mit Rollator oder Kinderwagen | |
unterwegs sind. | |
Das ist eine inhaltliche Forderung. Sie stellen aber die Machtfrage, indem | |
Sie Positionen fordern. Nochmals: Wie wollen Sie andere überzeugen, Ihnen | |
ein Stück vom Kuchen zu überlassen? | |
Das hört sich vielleicht blöd an, aber die Zeit ist auf unserer Seite. | |
Durch den demographischen Wandel wird die Gesellschaft immer älter. Alter | |
ist nicht automatisch mit Behinderung verbunden, aber je älter die Menschen | |
werden, desto wahrscheinlicher erwerben sie eine Beeinträchtigung. Eine | |
Gruppe von heute zwölf und in einigen Jahren noch mehr Prozenten hat eine | |
wirtschaftliche Dimension. Wenn man diese Gruppe vom Konsum ausschließt, | |
wird eine Möglichkeit zum Wachstum vertan. Behinderung und Pflege werden in | |
der Regel unter dem Kostenaspekt gesehen, aber sie schaffen auch | |
Arbeitsplätze. | |
Sind sie optimistisch? | |
Ich denke, wenn den Menschen klar wird, dass Behinderung jeden treffen | |
kann, werden wir sie motivieren, sich um das Thema zu kümmern. Nach dem | |
Motto: Wenn ihr wollt, dass man euch später anständig behandelt, dann | |
gestaltet die Gesellschaft entsprechend. | |
In letzter Zeit gab es geradezu eine Welle von Filmen mit Behinderten in | |
der Hauptrolle, zum Beispiel „Ziemlich beste Freunde“ oder „Vincent will | |
Meer“ – ist das ein Zeichen für diesen Wandel? | |
Ich anerkenne die Intention dieser Filme, aber ich würde mir noch mehr | |
Normalität wünschen: Zurzeit steht die Behinderung noch zu sehr im | |
Mittelpunkt, anstatt dass ein Mensch dargestellt wird, der neben anderen | |
Eigenschaften auch eine Behinderung hat. | |
Herr Schmitz, wann sitzen Sie selbst im Kieler Landtag? | |
Ich sehe es realistisch, für mich kommt es wohl zu spät. Aber ich hoffe, | |
dass die nächste Generation völlig normal mit am Tisch und auch im Landtag | |
sitzen wird. | |
18 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Esther Geisslinger | |
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