Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Hype um TV-Serie: Das ganz normale falsche Leben
> Die Serie „Berlin Tag und Nacht“ auf RTL II gehört derzeit zu den
> erfolgreichsten TV-Produktionen. Einziges Thema: das aufregende WG-Leben
> in der Hauptstadt.
Bild: So sehen Berliner aus. Zumindest bei "Berlin Tag und Nacht" auf RTL II.
Felix, dicke Goldkette, Vollbart, ist gerade frisch aus dem Knast raus und
feiert seinen Dreißigsten in der WG auf dem Hausboot im Osthafen. Als seine
Kumpels von früher kommen, pöbelt er sie an: „Wer von euch Dreckigen hat
mich an die Bullen verraten, hä?“ Er zieht ein Messer. Da wirft sich Caro,
seine volltätowierte und -gepiercte Schwester, dazwischen: „Ich war’s!“
Felix dreht durch, Caro muss beschützt werden. „Die soll mir nicht mehr
unter die Augen kommen! Ich kann für nichts mehr garantieren“, brüllt er in
die Kamera. Es wird überhaupt viel gebrüllt in der Daily Soap „Berlin Tag
und Nacht“, die seit 2011 für RTL II Quotenrekorde einfährt.
„BTN“ ist eine Telenovela, bei der man den Weichspüler vergessen hat. Der
Umgangston ist rau, die großflächigen Tattoos sind echt. Es ist ein
pseudodokumentarisches Format, bei dem auf Profi-Schauspieler fast völlig
verzichtet wird. Und den Laiendarstellern werden die Geschichten auf den
Leib geschneidert: „Wir haben erst den Cast ausgewählt und dann die
Geschichten entwickelt, nicht umgekehrt“ – so erklärt die Sprecherin der
Kölner Produktionsfirma Filmpool, die auch einen Sitz in Berlin hat, den
Erfolg der Serie. „Da unterscheidet sich ’Berlin Tag & Nacht‘ deutlich von
klassischen Soaps.“
## Sex, Tattoos und Muskeln
Ein Drittel aller Zuschauer zwischen 14 und 29 Jahren schauen jeden Tag dem
fiktiven WG-Leben in der Hauptstadt zu. Auf vier WGs in
Friedrichshain-Kreuzberg und Prenzlauer Berg – das Hausboot, ein Loft und
zwei Wohnungen – verteilen sich 20 Darsteller, die meisten zwischen 20 und
30 Jahre alt. Die Konstellationen der WGs ändern sich ständig. Konstant
bleibt nur das Milieu, in dem sich die Protagonisten bewegen: Einer
arbeitet als Tätowierer, ein anderer als Clubbesitzer, einer ist Türsteher,
eine ist arbeitslos und wäre gerne Sängerin. Im Büro sitzt jedenfalls
niemand. Die BTN-Helden verkörpern das aufregende Großstadtleben oder
zumindest das, was viele Jugendliche anscheinend dafür halten: Alles dreht
sich um Party, Sex, Tattoos und Muskeln, um Liebe, Intrigen, Fremdgehen und
Freundschaft.
Improvisation ist erwünscht, das WG-Leben soll echt wirken: Die Szenen
werden mit nur einer Kamera abgedreht, das Bild ist häufig verwackelt, der
Sound klingt amateurhaft. Viele Szenen werden draußen rund um die
Oberbaumbrücke gedreht. Das Ergebnis ist Trash, aber oft authentischer als
andere Seifenopern mit Darstellern von der Schauspielschule. Optisch haben
die Charaktere wenig mit echten, hippen WG-Berlinern gemein, aber die sind
ja auch nicht Zielgruppe. Bei den männlichen Darstellern dominiert der
Provinz-Checker-Style mit Muckis und Goldkettchen, bei den Frauen
Solariumbräune, künstliche Nägel, rosa Lipgloss, Piercings.
Trotzdem wirkt die Serie als Berlin-Werbung: Jede Folge ist voll von
Einstellungen des Großstadtlebens, untermalt mit cooler Musik. Wie das auf
die Zuschauer wirkt, erfährt man, wenn man sich zum Standort von Filmpool
auf dem Mediaspree-Gelände aufmacht. Die Serienfans pilgern mittlerweile in
Scharen zu den Drehorten rund um die Oberbaumbrücke. An einem eiskalten
Montag hat sich eine Oldenburger Schulklasse auf den Weg gemacht. Die
Zehntklässler haben gerade eine fünfstündige Busfahrt hinter sich und
suchen schon am Spreeufer das Hausboot, auf dem Ex-Knacki Felix Geburtstag
gefeiert hat. Die realen Adressen findet man in etlichen Internetforen.
Die 16-Jährigen hoffen, ein paar ihrer Stars bei den Dreharbeiten zu
erwischen. Viele sehen aus, als hätten Mode und Verhalten der Darsteller
schon abgefärbt: Ein gepierctes Mädchen mit schwarz gefärbten Haaren und
Hiphop-Basecap ruft in die Leere: „Penis!“. Ein Junge, der schon ein paar
Mal in Berlin war, führt die Gruppe zum Boot, das direkt hinter der
schmucklosen Filmpool-Filiale festgemacht ist. Große Aufregung. Alle
fotografieren mit ihren Smartphones und müssen ein bisschen über sich
selbst lachen: Ein eigentlich ziemlich langweiliger Kahn ist für sie zur
Sehenswürdigkeit geworden. Dessen Fenster sind abgedeckt, nur der
Schriftzug „Dschingis Kahn“ deutet darauf hin, dass das Boot etwas mit der
Serie zu tun hat. Keiner zu Hause.
Hat sich der Weg gelohnt? „Geht so“, sagen die Schüler. Gegenüber gibt es
ein großes Spongebob-Graffiti, auf dem sich andere BTN-Fans vereweigt
haben: Sie haben Herzchen für „Ole“ und „Fabrizio“ draufgekritzelt.
Manchmal müssen Securityleute Fans vertreiben, die auf das Boot zu klettern
versuchen, heißt es von der Produktionsfirma.
Aber man kann auch Glück haben: Bisweilen kommt jemand von Filmpool und
fragt die Bootspilger, ob sie Interesse an einem Casting haben. Drinnen
sitzen schon vier auf einer Bank und warten. Der Laiendarsteller-Verbrauch
ist immens, seit „Scripted Reality“, also scheinbar dokumentarisches
Erzählen, echte Menschen vom Schirm gedrängt hat. Laiendarsteller sind
berechenbarer. An sechs Tagen in der Woche wird gecastet, und nicht nur BTN
braucht ständig Nebendarsteller – Filmpool gilt als eine der führenden
Produktionsstätten für Scripted Reality.
## Immer bessere Quoten
Dabei ist das Konzept von BTN nicht einmal neu: Schon vor zehn Jahren gab
es auf ProSieben „Die Abschlussklasse“. Die war nach dem selben Konzept
gestrickt und wurde nach drei Jahren wegen gesunkener Quoten wieder
eingestellt. Es sieht nicht danach aus, als erlitte BTN bald dieses
Schicksal, im Gegenteil: Die Quoten werden immer besser. Seit kurzem wurde
ein Ableger der Serie für Köln ins Vorabendprogramm aufgenommen.
Vielleicht konnte BTN auch deshalb so groß werden, weil das Leben der
Protagonisten nach der Sendung in den sozialen Medien weitergeht. Auf
Facebook hat die Sendung mehr Fans als „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“.
Hier geben die Zuschauer fleißig Feedback, und die Produktionsfirma
reagiert bei den nächsten Drehs darauf . Als sich Serien-Muskelprotz
Fabrizio, einer der beliebtesten Darsteller, kürzlich mit seiner WG
gestritten hatte, fragte er auf Facebook, ob er nach Köln, also in die
andere Sendung, umziehen solle. Über 1.300 Fans baten ihn darauf zu
bleiben, manche flehten ihn förmlich an. Eine „Man dy“ schreibt: „In Kö…
wirst du kaputtgehen!!!!!!!!!!“
Auch die Oldenburger schauen regelmäßig bei Facebook rein, erzählen sie.
Sie ziehen über die Oberbaumbrücke in die Falckensteinstraße, wo die größte
Serien-WG wohnt – und wo tatsächlich gedreht wird. Hier prallen Fiktion und
Realität aufeinander: Obwohl den Schülern klar ist, dass die WG nicht echt
ist, hoffen sie, etwas aus deren Leben mitzubekommen. Aber kaum betreten
sie den Hof, bugsiert sie ein Sicherheitsmann nach draußen. Die
Jugendlichen geben kampflos auf und erhaschen nur wenige Blicke. „Sah ganz
anders aus als im Fernsehen“, sagt eine. Dann müssen sie los zum Hotel – um
19 Uhr fängt die Serie an.
Täglich werfe er Fans raus, sagt der Wachmann. Alle Altersgruppen seien
dabei. Und fast alle seien enttäuscht, weil es nichts zu sehen gibt als
einen Innenhof. Vom BTN-Hype hält er nichts: „Die Serie stellt Berlin dar,
als würde es nur um Party gehen.“ In Wirklichkeit sei das Leben hart, die
Leute seien arm und müssten sich „irgendwie durchschlagen“.
Ein junger Mann hat sich von der anderen Seite in den Hof gemogelt und will
sich an einer Mauer verewigen. Der Sicherheitsmann muss wieder ran.
11 Apr 2013
## AUTOREN
Martin Rank
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.