# taz.de -- Lärm in der Großstadt: Was haben Sie gesagt?!? | |
> Was es bedeutet, an einer stark befahrenen Straße zu wohnen: Ein | |
> Spaziergang zum Tag gegen Lärm | |
Bild: Das macht nicht nur Krach, es stinkt auch. | |
Wir treffen uns an einer Straßenkreuzung in Weißensee, und sofort ist klar, | |
dass die Berliner Allee mächtig gegen unser Gespräch anbrüllen wird. Im | |
Grunde ist es fast unmöglich, sich beim Spaziergang stadtauswärts überhaupt | |
zu unterhalten. Jens Herrmann von der Bürgerinitiative KiezGestalten | |
schreit gegen den Lärm an. „Es geht nicht nur um Lärm“, ruft er. „Denn … | |
dem Lärm gehen die Mieten runter und die Läden verschwinden.“ Silvia Braun, | |
seine Mitstreiterin, fügt lautstark an: „Man könnte sagen, dass bei uns das | |
Gegenteil von Gentrifizierung abläuft.“ | |
Die Berliner Allee ist eine Bundesstraße und eine der großen Zufahrtstraßen | |
zur Autobahn Richtung Hamburg oder Prenzlau – im Abschnitt zwischen | |
Smetanastraße im Süden und Rennbahnstraße im Norden allerdings verengt sie | |
sich zu einem schmalen Nadelöhr von oft weniger als 25 Metern Breite mit | |
dichter Wohnbebauung links und rechts. Durch dieses Nadelöhr quälen sich | |
täglich an die 30.000 Autos auf vier Spuren, dazu zehn Prozent Lkws, was | |
vergleichsweise viel ist für eine Hauptstraße in Berlin. Hinzu kommen die | |
Straßenbahnen auf zwei Gleisen. | |
An einer Stelle fordert ein Tempolimit, nicht schneller zu fahren als 30 – | |
es wird aber schon nach wenigen hundert Metern wieder aufgehoben, so dass | |
sich kaum jemand daran hält. An einer anderen Stelle gibt es eine weitere | |
Geschwindigkeitsbegrenzung, allerdings gilt diese nur zwischen 22 und 6 | |
Uhr. Unvorstellbar, hier wohnen zu müssen – ob mit oder ohne Isofenster. | |
Je weiter wir stadtauswärts gehen, desto deutlicher fällt der Leerstand in | |
vielen Läden ins Auge. Überall Schilder mit „Gewerbe zu vermieten“. Silvia | |
Braun, die seit 55 Jahren in Weißensee lebt, schwärmt, wie man hier noch | |
vor wenigen Jahren alles für den täglichen Bedarf kaufen konnte: beim | |
Bäcker, beim gehobenen Herrenausstatter, beim Buchladen und Reisebüro. | |
Heute gibt es hier nur noch ein Bordell, einen Pizzaservice, einen Spätkauf | |
und eine Versandstelle von Otto. | |
Es gibt Mitstreiter in der Bürgerinitiative von Jens Herrmann und Silvia | |
Braun, die die Verkehrslenkung auf der Berliner Allee verändern will, die | |
deshalb von einem Lärmslum sprechen. Von einem Lärmslum in einem Bezirk, | |
der einen der schönsten Seen zu bieten hat. In einem Bezirk, der weiter | |
südlich, im Musikerviertel, von immer mehr jungen Leuten und Familien | |
aufgewertet wird, die sich die Mieten in Prenzlauer Berg und Friedrichshain | |
nicht mehr leisten können. | |
Wir nähern uns einer der größten Kreuzungen der Gegend, an der die | |
Indira-Gandhi-Straße in die Berliner Allee mündet. Jens Herrmann erzählt, | |
dass diese Kreuzung in den Achtzigern gebaut wurde, als ob Berlin eine | |
Autostadt sei – und dass sie seither nicht mehr verändert wurde. Die | |
Fußgängerübergänge sind rar, überall Absperrungen, „Gitterorgien“, wie | |
Herrmann sie nennt. Die Verkehrsinseln, die die Querungen teilen, weil die | |
Ampelschaltzeiten zu kurz sind: Sie sind so winzig, dass kein | |
Fahrradanhänger auf ihnen Platz hätte. Dieser Abschnitt ist mit 65 Dezibel | |
tags und 55 Dezibel nachts, die die Bürgerinitiative gemessen hat, eine der | |
lautesten auf der Berliner Allee, denn hier kommen viele Lkws aus südlichen | |
Gewerbegebieten hinzu. Sicher, es gibt lautere Straßen in Berlin, zum | |
Beispiel die Leipziger Straße. Aber hier wohnen? | |
Wenig später geht rechter Hand die Buschallee ab – wir laufen ein Stück | |
hinein und Jens Herrmann und Silvia Braun erklären, warum der Lärm hier | |
nachlässt. Hier wurde eine Autospur weggenommen, stattdessen gibt es nun | |
einen Fahrradweg. Die Gleise der Straßenbahn sind in Rasen gelegt, das | |
nimmt zusätzlich Lärm. Nur für die Bäume hat es dann nicht mehr gereicht. | |
So, wie hier der Verkehr verändert wurde: Das wäre nur eine von vielen | |
Möglichkeiten, wie man auch Anwohnern auf der Berliner Allee entgegenkommen | |
könnte – andere wie partielle Spurverengungen oder Umleitungen der Lkws hat | |
die Bürgerinitiative längst vorgeschlagen. Und die BVV hat die | |
Grundsanierung – mehr Fußgängerquerungen, mehr Radwege – auch längst | |
beschlossen. Der Bezirk aber hat kein Geld, er schiebt die Sanierung auf | |
die lange Bank, erzählt Jens Herrmann. Wenn jetzt die Dinge ihren Lauf | |
nehmen würden, würde es vielleicht 15 Jahre dauern, bis die Straße ohnehin | |
saniert werden müsste. | |
Inzwischen sind wir in der Bernkasteler Straße angelangt. Hier, in der | |
tagsüber ruhigen Straße, arbeitet Jens Herrmann im Kubiz, dem Kultur- und | |
Bildungszentrum Raoul Wallenberg. Am Anfang, erzählt er, ärgerte er sich | |
vor allem über den Weg zur Arbeit, über die fehlende Infrastruktur, über | |
das „massive Unsicherheitsgefühl“ auf dem Rad. Aber dann zog er im Jahr | |
2010 ins Kubiz. | |
Und stellte fest: Direkt nebenan befindet sich ein Betriebshof der BVG. | |
Kurz vor Mitternacht fahren die Straßenbahnen ein, werden gewaschen und | |
gewartet. Weil der Hof alt ist, müssen die Straßenbahnen um scharfe Kurven | |
herum. Und in den scharfen Kurven machen vor allem die neuen Trams, die | |
angeblich so leise sind, den größten Lärm. Die Bürgerinitiative | |
KiezGestalten hat nachts von Fenstern umliegender Wohnhäuser aus bis zu 90 | |
Dezibel gemessen. Es scheint, als hätte Jens Herrmann auch an dieser Front | |
noch viel zu tun. | |
23 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |