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# taz.de -- Puppentheater in Hannover: Der Charme des Unfertigen
> Schaumstoffrest, Putzlappen und Pappkarton: Die Berliner
> Puppentheatertruppe „Das Helmi“ gastiert mit ihrem „Zirkus des
> Fortschritts“ in Hannover.
Bild: Spontanes Theater: bei der Premiere des Zirkus des Fortschritts am 26. Ap…
HANNOVER taz | Vorstellungsbeginn in vier Minuten. Der „Froschkönig“ ist
angekündigt, in großen Lettern. „Aber der Hauptdarsteller fehlt“, sagt
Puppenspieler Emir Tebatebai. Hektik, Panik? Fehlanzeige! „Wir nehmen ’Leon
– der Profi‘ aus der anderen Produktion“, erwidert Florian Loycke. Er ist,
was man das Mastermind nennen könnte, der Kopf hinter den Berliner
Puppentheaterfreaks „Das Helmi“.
Puppen? Genau: Mit denen ist der riesige Sack gefüllt, aus dem die gesuchte
Spielfigur schließlich hervorgewühlt wird. „Leon“ bekommt das Haupt mit
glitzerndem Plastikgekröse gekrönt, die Strenge aus dem Profikillerantlitz
gefusselt – fertig zum Auftritt.
Die Eltern sitzen bereits, haben ihre Kleinen auf Matratzen abgelegt.
Andere Kinder krabbeln, toben herum, fordern: „Eis!“ Stattdessen gibt’s
Geschichten. Na ja, eher eine Revue der Einfälle zu Geschichten, locker um
den Titel des Stücks herum assoziiert, unterbrochen von antiautoritären
Liedern zum Mitsingen. Die Dialoge wirken wie gerade ausgedacht, fast jeder
Satz wird lustvoll auf Klischeehaftigkeit und Stereotypisierung untersucht
– mit dem Charme des Unfertigen ist dieses spontane Theater purer Jux und
anarchistische Dollerei.
## Des Theaters Zukunft
Der Spielort Küchengartenplatz in Hannover-Linden ist ein Freiraum, wie ihn
jede Stadt kennt: der Boden bedeckt mit einem Teppich aus Kronkorken,
Glasscherben, Boulevardzeitungsresten und Hundekot. Punker hängen im
Gegenwind, Trinker scharen sich, Skater, Biker und Inliner proben Tricks,
eine Großfamilie picknickt, Väter schieben Kinder spazieren, ein paar
Männer spielen Boule. Mittendrin, in schwarzes Plastik eingewickelt und mit
Stofffetzen geschmückt: zwei Bauarbeitercontainer, das „temporäre
Platzhaus“ der Helmis.
„Nicht ganz so krass, aber dem Berliner Helmholtzplatz schon sehr ähnlich
ist das hier“, schlägt Florian Loycke die Rolle zurück zu den Anfängen:
Nach jenem Platz haben sich die Helmis benannt, dort kreierten sie, in
einer umgebauten Bedürfnisanstalt, die ersten Stücke. 2002 war das.
Vier bis sieben der Beteiligten – allesamt unverbildet durch Schauspiel-,
Puppentheater-, oder Musik-Studium – sind jetzt in wechselnden Besetzungen
bis Anfang Juni in Hannover, um mit ihrem Streichelzoo der grob aus
Schaumstoffresten, Putzlappen, Pappkartons und Klebeband zusammengeflickten
Knautschgesichter den „Zirkus des Fortschritts“ zu zelebrieren. Der ist
nichts Geringerem gewidmet als der Zukunft des Theaters.
„In Berlin reagiert man auf so was inzwischen mit: ’Schon wieder so ’ne
Kunstscheiße‘“, erzählt Aljoscha Begrich, Dramaturg am Staatstheater
Hannover. „Hier kommen die Leute freundlich, neugierig vorbei, machen mit.“
Loykche stimmt ein: „Eine alte Frau hat uns zur Begrüßung eine Torte
geschenkt, abends kommen die Obdachlosen zum Reden.“
Gemeinsames Kochen und Figurentheater in den umliegenden Kneipen sind
angekündigt, nachmittags gibt’s Puppenbau-Workshops. Die Materialien werden
von Sperrmüllhaufen und aus dem Abfall der Theaterwerkstätten geklaubt,
oder im Baumarkt gekauft.
Auf’s alternative Linden folgt für den Zirkus den, nun ja, „Rentnerbezirk
Südstadt“ und stößt schließlich vor ins „Herz des Konsums, auf den
Opernplatz“. Da werden dann Staatstheatermimen dazugeholt, für künftige
Produktionen. „Die haben häufig Schiss, sich bei uns zu blamieren“, sagt
Loycke. Denn: „Wir improvisieren so viel und machen noch mehr Quatsch.“ So
soll im Januar 2014 auf der kleinen Bühne des großen Hauses „Der Minator 2�…
zur Uraufführung kommen: Schaumstoffpuppen entdecken das Muskelkino Arnold
Schwarzeneggers.
## Kartoffelsalat im Dialog
Obwohl die Helmis gern gesehene Gäste auf den großen Bühnen Deutschlands
sind, heute hier und morgen dort engagiert sind, binden sie sich nun also
für zwei Jahre an Hannover. „Wir wollen mal wieder die Stadt erleben und
kennenlernen, in der wir arbeiten“, erklärt Loycke. „Aus losen Resten,
Zeichen, und Anekdoten eine neue Ordnung konstruieren“, formuliert es
Begrich.
In der Stadt Kurt Schwitters’ möchte Loycke eine neue „Dada-mäßige
Bewegung“ initiieren: „Der Kartoffelsalat, den wir gestern im Lokal
gegenüber gegessen haben, wird heute in einen Dialog unserer Aufführung
eingebaut.“ Gestern lecker, heute Kunst. Jeder Input wird irgendwie Teil
des künstlerischen Outputs.
Ganz in Schwitters’ Sinne: Der forderte ja „die Zusammenfassung aller
erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die
prinzipiell gleiche Wertung der einzelnen Materialien“. Das Kunstwerk, die
Aufführung, wird so endlos aufnahmefähig, also hannover-, ja: welthaltig –
und die Helmis sind Zusammenhangbastler, Verknüpfer, Collageure. Mit
unbezwingbarem Spieltrieb entsteht für Momente ein spannungsvolles
Miteinander. Mehr dadaistische Leichtigkeit des Seins geht wohl nicht.
„Wir machen den ganzen Platz zum Kunstwerk, nutzen ihn als Begegnungsort
und kultivieren dort das öffentliche Rumhängen, also Rumhängen mit Drive“,
sagt Loycke – „sonst wär’s ja Pennerkultur.“ Jeder kann irgendwas, mus…
nur einbringen, sei’s Singen, Geschichtenerzählen, Tortenbacken oder
Über-Poller-BMX-Radeln. In Hannover-Linden lebten ja viele jener oft
beschworenen, wiederholt statistisch erhobenen 93 Prozent der Bundesbürger,
die nie ins Theater gehen, ergänzt Begrich. Jetzt kommt es zu ihnen.
## Von Freien lernen
Die sehr flexiblen und kreativen Arbeitsprozesse der freien Szene seien mit
Arbeitszeiten und -abläufen des unbeweglichen Staatstheatersystems nicht
vereinbar, sagt Dramaturg Begrich. „Wer dort was will, muss so
funktionieren, wie das Haus funktioniert. Da die Helmis daran kein
Interesse haben, können sie die Möglichkeiten des Apparats nicht nutzen.“
Wird also ein Requisit benötigt oder ist ein technisches Problem zu
beseitigen, wird’s lieber selbst organisiert.
„Aber die Theater müssen zusammenkommen“, sagt Begrich. Lernten die
Etablierten nicht von den Freien, „werden sie bald nicht mehr existieren“.
So seien die gemeinsamen „Doppelpass“-Projekte „Überlebenshilfe“, sagt…
Dramaturg – „wenn die Theater sie annehmen“.
Wie zur Nachhilfe dokumentiert Das Helmi neben den Begegnungen mit Hannover
und den Hannoveranern auch die zuweilen kafkaesken Kämpfe mit dem
Staatstheaterbetrieb: Diese Sachberichte kommen ab 6. Juni auf die Bühne.
## „Zirkus des Fortschritts“: bis Sonntag, 5. 5., Hannover, Küchengarten;
8.–19. 5., Stephansplatz; 22. 5.–2. 6., Opernplatz. Weitere Infos und alle
Termine gibt es .
3 May 2013
## AUTOREN
Jens Fischer
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