# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 1: Kopfgeburt | |
> Die Autorin Tania Witte schreibt ab sofort jede Woche den | |
> Fortsetzungsroman „Lust. Ausgerechnet“. Protagonistin Leena wird mit | |
> ihrer Lust konfrontiert. | |
Bild: Vor lauter Aufregung hängt Leena kotzend über der Kloschüssel. | |
Leena wartete. Worauf, wusste sie nicht, nur dass es unabdingbar war. Sie | |
lag mit dem Kopf am Fußende des Bettes, die nackten Füße gegen die Wand | |
gestützt, und betrachtete das rechteckige Schwarzweißfoto eines Steinturms. | |
Das Bild hatte sie gleich dreimal gekauft, um den Turm bis zur Zimmerdecke | |
wachsen lassen zu können, so dass er nun wie ein breiter Strich aus | |
Wiederholungen über ihr schwebte. | |
Sie war das Warten gewöhnt. Solange ihr Unterbewusstsein Themen beackerte, | |
von denen ihr Bewusstsein jederzeit abgestritten hätte, sich mit ihnen zu | |
beschäftigen, konnte sie nichts anderes tun, als abzuwarten. Was häufig | |
vorkam. | |
Lange Girlanden von Fragen säten sich im Stundentakt in ihr fruchtbares | |
Hirn und keimten, sprossen, wuchsen dort einigermaßen unbehelligt vor sich | |
hin. Am Ende gebar Leena Antworten, von denen sie weder wusste, dass sie | |
mit ihnen schwanger gegangen war, noch, ob sie sie hören wollte. | |
Eine leichte Übelkeit oder ein Ziehen im Hirn zeigten ihr an, wenn die Zeit | |
gekommen war, die Geburtshaltung – auf dem Bett, unter dem Strich – | |
einzunehmen. Die Antwort, wenn sie schließlich das Licht der Welt | |
erblickte, ploppte hervor, ein Ausrufezeichenpunkt unter der langen Linie | |
aus Steinen. An diesem Freitag im Mai war der Schmerz im Kopf so groß, dass | |
ihr die Geburt selbst komplett entging. | |
„Ich bin“, sagte das Neugeborene, „alles, was du nicht willst. Alles, was | |
du ignorieren, verbrennen, zerstückeln willst. Aber damit“, es wuchs ein | |
wenig, „damit ist jetzt Schluss. Ich erwarte nicht, dass du mich in die | |
Arme nimmst“ (natürlich erwartete es genau das), „aber ich erwarte, dass du | |
mich ansiehst. Was ich bin ist, was du bist, weißt du?“ | |
„Nein“, sagte Leena laut, „weiß ich nicht. Was soll das Theater?“ | |
„Ich bin Vergangenheit und Zukunft und geboren aus beidem“, orakelte die | |
Antwort weiter. | |
„Bist du auf Drogen?“, wollte Leena wissen. | |
„Keine schlechte Idee“, grinste die unerwünschte Antwort, die Haare noch | |
feucht von der Geburt. „Genau darum geht es. Ich bin das, was du deine | |
dunkle Seite nennst. Du hasst mich, hast mich eingesperrt und im Dunklen | |
wächst sich’s gut. Aber jetzt reicht’s.“ Sie pumpte sich noch ein bissch… | |
auf, lief rosarot an und platzte stolz heraus: „Ladys and Gentlemen!“ | |
Leena sah sich um. Keine Gentlemen vor Ort, und sie selbst war von einer | |
Lady auch meilenweit entfernt. Paralysiert verzichtete sie auf eine | |
Richtigstellung. | |
Die ungefragte Antwort gefiel sich derweil in der Rolle des Direktors eines | |
Achtziger-Jahre-Kleinstadt-Zirkus. „Ich präsentiere dir“, Trommelwirbel, | |
Beckenschlag: „Deine Lust.“ | |
Ein Foto, in diesem Moment von Leena geschossen, hätte es bis in das | |
Horrorkabinett ihres Exmitbewohners Kay geschafft, der über seinem | |
Schreibtisch Bilder von besonders entstellten Fratzen seiner Mitmenschen | |
sammelte. Leena hätte ohne Anstrengung dem Bild von Nuray Konkurrenz | |
gemacht, auf dem diese im Hollandurlaub unter einer Massenpopulation | |
vibrierender Weberknechte stand. | |
Leider war niemand da, der Leenas unbezahlbaren Anblick – die Zähne fest in | |
die Unterlippe verbissen, die Augenbrauen ein dahingeworfener Balken auf | |
ihrer Stirn – für diese Horror-Pinnwand festgehalten hätte. Sie starrte auf | |
die Ausgeburt ihrer selbst, die Antwort, die sie nicht hatte hören wollen | |
und die jetzt aufgeregt auf dem Bett auf- und absprang, auf und ab. | |
„Lust!“, schrie die lästige Antwort. „Lu-hu-huu-st!“ | |
Und Leena wurde schlecht. So richtig. | |
Auch in ihrer Kloschüssel, die Knie hart auf den grauen Fliesen, die Augen | |
rot und der Hals rau, konnte sie die Frage, die zu der unwillkommenen | |
Antwort gehörte, nicht ausmachen. | |
Die Antwort worauf lautet: Lust?, überlegte Leena und stützte sich | |
erschöpft am Badewannenrand ab. Auf der Hand läge etwas mit Sex, mit | |
Ausschweifungen und Exzess. Halbseiden. Schmutzig. | |
„Warum hast du das getan?“ | |
„Ich hatte einfach Lust dazu.“ | |
Eine simple, unschlagbar hedonistische Antwort. | |
Leena drehte den Hebel der Badewannenarmatur weit nach rechts und ließ das | |
Wasser laufen, bis es tongagrabenkalt war. Dann bündelte sie mit der linken | |
Hand ihr Haar im Nacken, schob sich weit über den Badewannenrand, hielt das | |
Gesicht unter den Strahl und die Luft an. | |
Erst als eine dünne Eisschicht ihre Haut bedeckte, erinnerte sie sich an | |
die Frage, die sie tagelang umgetrieben hatte. Sie fuhr hoch, schlug mit | |
dem Kopf gegen den Wannenhahn, fühlte erst nichts und dann den Schmerz und | |
dann wieder nichts. | |
LUST. Ausgerechnet. | |
31 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Tania Witte | |
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Fortsetzungsroman Lust. Ausgerechnet | |
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