# taz.de -- Artweek: „Stagnation kann spannend sein“ | |
> Heute eröffnet vor der neuen Galerie C/O die Schau „Westwärts“. Zwei der | |
> Künstler im Gespräch. | |
Bild: Amerikahaus war. C/O Galerie ist. | |
taz: Herr Weiss, was interessiert Sie an Charlottenburg? | |
Maurice Weiss: Charlottenburg war die reichste Kommune Preußens. Damit | |
entstand dort eine Kultur der Toleranz, die man bis heute spürt. Der Bezirk | |
ist extrem offen und großbürgerlich. | |
Wie haben Sie sich dem genähert? | |
Meine Arbeit ist eine klassische Reportage über den Rabbiner Ehrenberg und | |
seine Gemeinde in der Joachimstaler Straße. Die Familie Ehrenberg war | |
sieben Generationen lang in Jerusalem ansässig. Als junger Rabbiner | |
beschloss er, nach Berlin zu gehen. Er wollte eine Stelle in Berlin | |
etablieren, wo das klassische orthodoxe, identitätsstiftende jüdische Leben | |
stattfinden kann. | |
Was hat Sie daran interessiert? | |
Die Deutschen sprechen seit dem Krieg immer von der jüdischen Gemeinde. Die | |
gibt es aber nicht. Es gibt inzwischen reformierte, liberale, | |
ultraorthodoxe – sogar Gemeinden, die durch das jüdische Leben in Brooklyn | |
geprägt sind. Jede Menge Gruppierungen, die miteinander streiten wie | |
überall anders auf der Welt auch. Es hat sich also herrlich normalisiert. | |
Und was ist das Interessante an Ehrenbergs Gemeinde? | |
In Charlottenburg gibt es ein altes Fundament. Es fängt schon mit banalen | |
Dingen wie der Architektur an. Eine große Wohnung ist ideal für einen | |
Rabbi, weil man dort Leute empfangen kann. Solche Wohnungen gibt es in | |
Mitte nicht. Die wenigsten wissen, dass es nach dem Krieg immer eine Art | |
jüdisches Leben in Charlottenburg gab – ein zartes Pflänzchen, das die | |
Schoah nicht gebrochen hat. Das reicht von der Frau, die in den Fünfzigern | |
einen koscheren Laden gründete, bis zu den Kindern der Überlebenden, die | |
meist in Charlottenburg geblieben sind. | |
Frau Schröder, wie haben Sie sich dem Bezirk genähert? | |
Linn Schröder: Ich war beispielsweise viel im Zoo unterwegs. Ich habe auch | |
anderswo viele Details fotografiert, die wie Überbleibsel wirken. Meine | |
Fotos sind meist menschenleer. | |
Warum wirken Ihre Bilder so melancholisch? | |
Ich habe analog fotografiert, schwarzweiß, und dann auf Farbpapier | |
abgezogen, sodass sie eine Art Sepiastich haben. Sie wirken wie aus einer | |
anderen Zeit. | |
Sie wirken wie zwischen zwei Welten, zwischen Traum und Wirklichkeit. Wie | |
neu war Ihnen der Westen? | |
Für mich gehören Nostalgie und Melancholie unbedingt zu Charlottenburg. Es | |
gibt viel Altes, sodass man oft vergisst, in welcher Zeit man eigentlich | |
ist. | |
Laut Ihrer Agentur Ostkreuz heißt es, es gehe bei der Ausstellung darum, | |
einen Bezirk zu porträtieren, der sich im Umbruch befindet. Stichwort City | |
West. Widerspricht das nicht Ihrem Ansatz? | |
Für mich fühlt sich eben Charlottenburg eher vergangen an. Es war für mich | |
sehr einsam, dort herumzulaufen. Ich bin dort fremd, kenne dort so gut wie | |
niemanden. | |
Herr Weiss, Sie haben den Mauerfall fotografiert, sind seit fast 20 Jahren | |
bei Ostkreuz und leben bis heute in Mitte. Kann man sagen, dass Sie eher | |
vom Osten der Stadt geprägt sind? | |
Weiss: Franz Biberkopf lebte jedenfalls nicht in Charlottenburg. Für die | |
Charlottenburger ist der Alexanderplatz der letzte Dreck. Zu proletarisch, | |
zu protestantisch. Als ich hier ankam, da tauschte ich mich immer mit | |
Franzosen aus, wo man denn hier ein gutes Käsebrot kaufen kann. Erst in | |
Charlottenburg fand ich diese Affinität zu Genuss und Schönem, die ich | |
vermisste. Ob das jetzt der alte Seifenladen ist oder der Laden für selbst | |
gemachte Konfitüren … Oder Eisen-Adolph! Seit ich Eisen-Adolph kenne, gehe | |
ich in keinen anderen Baumarkt mehr. So etwas findet man in Mitte und | |
Prenzlauer Berg nicht mehr. | |
Das klingt, als seien Sie Fan? | |
Ich bin total gern in Charlottenburg. Ich liebe es, ab und zu in der Paris | |
Bar abzustürzen. Dort kommt man nach dem Essen garantiert mit den | |
Sitznachbarn ins Gespräch – ob das jetzt Vermögende oder Arme sind, | |
Professoren, Blaublütige oder Promis. Charlottenburg ist wahnsinnig | |
heterogen. Man hat alles, man kann sich frei bewegen. Das war schon immer | |
so und das wird auch erst einmal so bleiben, trotz City West. | |
Würden Sie heute als Neuankömmling in Berlin keine Wohnung mehr in Mitte | |
suchen? | |
Auf keinen Fall. Es ist fast, als könne man in Charlottenburg heute bessere | |
Geschichten finden. | |
Obwohl immer alles gleich geblieben ist? | |
Schröder: Stillstand ist nicht dasselbe wie Langeweile. | |
Weiss: Die Veränderungen gehen doch in allen großen Städten Europas in die | |
gleiche Richtung. Es geht um Steigerung von Effizienz, um | |
Kommerzialisierung und zunehmende Entmischung. Die Städte gehören immer | |
weniger ihren Bewohnern. Man wählt seine Freunde zunehmend danach aus, wie | |
nützlich sie einem sind, und immer weniger danach, ob man mit ihnen einen | |
netten Abend verbringen kann. | |
Dann doch lieber Stagnation als Fortschritt? | |
Die Stagnation kann spannender sein, denn nur sie lässt Zufälliges zu – | |
dass sich Dinge entwickeln können. All das, warum man überhaupt in | |
Großstädte geht. Insofern könnte man sagen, dass in der Stagnation mehr | |
möglich ist. Und dass man diese Art der Stagnation heute eher in | |
Charlottenburg findet als in Mitte. | |
18 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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