# taz.de -- taz2 wird 10 Jahre alt: Das könnte Sie interessieren | |
> Am 18. Oktober 2003 beginnt mit der Einführung des Gesellschaftsteils | |
> taz2 eine Annäherung der taz an die Gegenwart. Eine Hommage. | |
Bild: Die Zeitungen erfassen einfach nicht alle Enten ... äh ... Themen. | |
Es gibt ein Loch in deutschen Zeitungen. Monströs groß. Monströs ignoriert | |
– bis auf eine Ausnahme – von Redaktionen und Verlagen. Ich rede von einer | |
Gesellschaftsberichtstattung, die als Brücke vom politisch-wirtschaftlichen | |
zum kulturellen, wissenschaftlichen und populärkulturellen Journalismus | |
fungiert und funktioniert. | |
Die relevante und interessante Bereiche, Geschichten und Sichtweisen | |
integriert, die weder vorn noch hinten stattfinden, weil sie durch die | |
Raster der jeweiligen Fachressorts fallen. Kurzum: tief recherchierte und | |
gut geschriebene Geschichten, die bestimmte Menschen WIRKLICH | |
interessieren. | |
Ich rede von taz2, dem im Oktober 2003 gegründeten Gesellschaftsteil der | |
taz, der die Lücke gefüllt und die Zeitung ganzheitlich gemacht hat. Ich | |
gebe zu, dass ich als Mitgründer selbstverständlich das Positive betone. | |
Aber das ist eine Frage der Lebenseinstellung. Und diese Lebenseinstellung | |
zeichnet taz2 aus. | |
Manche sagen, im Gegensatz zur taz. Die einen sagen es anerkennend, die | |
anderen besorgt. Wie kann man nur – ist das nicht unmoralisch? Quatsch. | |
## Jenseits der Kleingärten | |
Warum hat ausgerechnet die taz den Sprung geschafft und sonst nicht einmal | |
die Süddeutsche? Das weiß ich nicht. Grundsätzlich ist es so: Jede | |
Redaktion ist in Ressortorganismen unterteilt, welche sich wieder in | |
Mikroorganismen der Zuständigkeit oder des Eigeninteresses aufteilen. Das | |
ist wichtig für Verlässlichkeit und Qualitätssicherung. Der Nachteil ist, | |
dass all jenes nicht oder nicht optimal erfasst wird, was jenseits der | |
Zuständigkeiten passiert. | |
Etwas ungerecht zusammengefasst: Die Welt, die Themen, die Medienrezeption, | |
die Leitfiguren, sehr vieles hat sich in den letzten Jahrzehnten stark | |
verändert. Die Zeitungen aber waren der Fels. Der Fels der Nichtveränderung | |
inmitten einer gewaltigen Brandung. Was aber die Wellen bekanntlich nicht | |
interessiert, sie suchen und sie finden einen Weg um den unbeweglichen | |
Felsen herum. | |
Die Digitalisierung hat diese Entwicklung beschleunigt, indem sie ein | |
Bedürfnis mit dem Angebot neuer kultureller und habitueller Gepflogenheiten | |
verknüpft hat. Der Aufstieg von Spiegel Online zum Leitmedium all jener, | |
die ihre Arbeit an einem Computer verrichten beziehungsweise eben nicht, | |
weil sie sich mit dem Lesen von Spiegel Online unterhalten, zeigt, dass | |
sich die Anforderungen an einen zeitgemäßen Gesellschaftsteil mittlerweile | |
so weiterentwickelt haben, dass er nicht mehr auf Gedrucktes reduziert | |
werden könnte, wenn es ihn überhaupt gäbe. | |
## Wer bin ich und wer könnte ich sein? | |
Was haben wir in der klassischen Zeitung? Es gibt eine „Seite 3“ für | |
Reportagen und Autorenstücke, deren Bandbreite meist auf eher klassische | |
Themen (häufig Politiker-, Helden- und Opferporträts) reduziert wird. Es | |
gibt eine Vermischte Seite, die häufig von Außenseitern der Redaktion | |
mutlos und verdruckst gemacht wird – und dennoch die meisten Leser findet. | |
Es gab Anfang des Jahrtausends den verkorksten Versuch, mit einem | |
Allzuständigkeitsfeuilleton diese befremdlichen neuen Populär- und | |
Gesellschaftsthemen abhandeln zu können. Was sich schlicht als | |
Überforderung herausstellte. Einzig die FAS hat (auch dank der Gnade des | |
wöchentlichen Erscheinens) den Durchbruch geschafft, der Rest hat | |
abgebrochen. | |
Es war aber auch von den politischen Ressorts zu kurz gedacht, die das Zeug | |
schlicht loswerden wollten und dessen politische Dimension in einer immer | |
heterogener werden Gesellschaft nicht sahen, die sich immer weniger über | |
Parteien, Parlamentsbetrieb und politische Diskurse definierte und | |
Ablenkung, aber auch Halt und Inhalt in Fragen des Lebensstils suchte. | |
Wer bin ich und wer könnte ich sein? Darauf suchen immer weniger die | |
Antworten in Leitartikeln oder Bob-Dylan-Konzertkritiken, von Literatur mal | |
ganz zu schweigen. Und das menschliche Unterhaltungsbedürfnis? Ist | |
natürlich wie Harndrang und lässt daher in Wahrheit keinerlei moralische | |
Wertung zu, schon gar nicht, wenn der Unterhaltungsfaktor als Vehikel für | |
Inhalt benutzt wird und damit höchstes journalistisches Kunsthandwerk | |
markiert. Selbstverständlich gilt aber auch hier das Wort von | |
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann: „Nichts im | |
Übermaß“. | |
## Was fehlt | |
Die taz wurde 1978 aus dem Verständnis heraus entworfen, dass in Zeitungen | |
vieles und Entscheidendes fehlt. Diese Gründungsverantwortung ist auch die | |
Basis von taz2, aber eben nicht mehr im Kontext der sich formierenden | |
Ökologiebewegung und des Deutschen Herbstes. | |
Nichts gegen atomwaffenfreies Gender-Mainstreaming, aber der Kontext des | |
21. Jahrhunderts verlangt neue Verknüpfung von Politik und deren | |
Konsequenzen auf das Leben, neue Themen (etwa Digitalisierung, klar), neue | |
Paradigmen der Welterfassung (etwa Fernsehserie statt Buch), neue Offenheit | |
(jenseits der alten Gut-Böse-Schemata) und neue interdisziplinäre Qualität | |
durch den Kommunikations- und Organisationszusammenhang all jener | |
Journalisten, die für Gesellschaft, Kultur, Medien und Sport zuständig | |
sind. | |
Hier die kleinteilige „zweite Meinung“ auf Seite 14 (heute 12), in der | |
subjektive Stimmen, schnelle Analysen und Aphorismen, Minirecherchen und | |
ein neuer Weltzugang sichtbar werden. Dort die Themenseite 13 (11), für die | |
eine neue Allianz von Tagesaktualität und Magazinjournalismus geschlossen | |
wurde. Jede Disziplin, ob Medien, Sport oder Popmusik, konnte nun Themen | |
groß aufbereiten, neue Formen des Geschichtenerzählens ausprobieren mit | |
neuen Verbindungen von Text und Optik. | |
Taz2 war eine Annäherung an die Gegenwart und damit brutale Avantgarde. | |
Manche Leser reagierten entsprechend begeistert. „Die ’zweite Meinung‘ | |
erzeugt bereits nach wenigen Minuten einen derartigen Überdruss, dass man | |
eine Blattreform vorschlagen möchte“, schrieb ein Leser. Und eine Leserin: | |
„Nach eurer letzten Ausgabe mitsamt taz zwei bin ich schwer am Überlegen, | |
ob ich nicht doch auf die Ostfriesen-Zeitung zurückgreife!“ | |
## Der Niedergang naht | |
Die taz wird von Lesern und Medienkollegen nach meiner Vermutung immer auch | |
stellvertretend attackiert. Die Sorge um ihren moralischen Niedergang ist | |
die Sorge um den eigenen moralischen Niedergang. Dementsprechend sorgte | |
sich der ehemalige Medienredakteur am meisten um den Ausverkauf der | |
taz-Medienberichterstattung, der ja sicher mit taz2 einhergehen würde. Dem | |
zeigten wir es und vergrößerten die Medienberichterstattung, indem wir das | |
Fernsehprogramm abschafften. Das Jahrhundert des Fernsehens war eh vorbei. | |
Und die taz nicht links und nicht rechts, sondern wie immer ganz vorn. | |
Na ja, soviel Leserprotest gab es nicht einmal bei der „titten-taz“. Wir | |
lernten: Revolution schön und gut, aber nicht ohne tägliches | |
Fernsehprogramm. | |
Ansonsten lief es großartig. Spiegel Online schrieb: Während man vorher | |
Humorlosigkeit als moralischen Wert gehabt habe, lächele man nun | |
„verkrampft neue Leser an“. Die FAS schrie nach der ersten Ausgabe entsetzt | |
auf („Iiiiiih“), weil die Größe („klein“) von Charlotte Roches Brüst… | |
positiv – thematisiert wurde. Helmut Markwort (Focus) war indigniert, weil | |
der Test der Montagsmagazine unter der Frage „Steht wieder nichts drin?“ | |
dem Focus regelmäßig attestierte: „Das Vorurteil trifft zu.“ Bild musste | |
Dieter Thomas Heck in Schutz nehmen, weil der auf taz2 vom „Grand Prix | |
Chef“ als „Vaterlandsverräter“ bezeichnet wurde. Wir schockten die | |
Traditionsleser mit der exklusiven und hochbrisanten News: „Baader soll | |
Kind im Gefängnis gezeugt haben“. Was bis heute von der RAF nicht | |
dementiert wurde. | |
Die eigene Kulturredaktion schrieb dann in die Zeitung, dass man taz2 | |
„bitte nicht mit der Kultur verwechseln“ solle. Interne Kommissionen tagten | |
wochenlang mit dem Ergebnis, dass die Rubrik „Das müssen Sie wissen“ in | |
„Das könnte Sie interessieren“ umbenannt wurde. Ersteres sei ein | |
autoritärer Imperativ und außerdem müsse man ja gar nicht wissen, was da | |
drinstehe. Was ja wohl beweist, dass der Vorwurf gegenstandslos war, wir | |
hätten unsere Humorlosigkeit verloren. | |
Aber dann paraphrasierte das FAZ-Feuilleton auf seiner Seite 1 ein | |
taz2-Gespräch unserer Kollegin Susanne Lang mit der Schauspielerin Nina | |
Hoss. Die FAZ vermerkte erstaunt, Hoss sei eine „Repräsentantin einer | |
öffentlichen Vernunft“. Eine im 21. Jahrhundert angekommene linke, | |
engagierte Bürgerin. | |
Und da war taz2 verstanden und auf den Punkt gebracht. | |
■ Der Autor leitete das Entwicklungsteam von taz2 | |
18 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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