# taz.de -- Freie Theater geben Gas: Auf der Bühne Revolte machen | |
> Kultur in der Nische: die Freien Theater in Schleswig-Holsteins machen | |
> trotz Geldmangel ambitioniertes Programm. | |
Bild: Beliebter Stoff auch bei Enzensberger: Titanic-Untergang. | |
Das ist der Anfang vom Ende: Das Bersten von Metall, das Klirren von Glas. | |
Elisabeth Bohde sitzt in Socken, einer weiten Hose und einem weichen blauen | |
Pullover am Rand des Bühnenraums, Torsten Schütte in Jeans und schwarzen | |
Pullover auf einem der Sessel im angedeuteten Salon der Ersten Klasse. | |
Abwechselnd sprechen sie den Text vom Untergang der Titanic. Alle Weile | |
fällt eine Kastanie von einem Baum draußen mit einem harten Knall auf das | |
Dach. Es könnte ein Kommentar zum Stück sein, aber Schütte meint, zur | |
Premiere wäre es vorbei mit der Kastanienzeit. Premiere ist in einer Woche, | |
der Text sitzt noch nicht perfekt, aber das Schauspieler-Duo, das auch | |
außerhalb der Bühne ein Paar ist, wirkt keineswegs beunruhigt. Müssen sie | |
halt am Wochenende noch ein bisschen Enzensberger lesen – es gibt | |
Schlimmeres. Seit 30 Jahren führt Bohde das Theater „Pilkentafel“, das nach | |
der Straße am Flensburger Stadthafen benannt ist. Schütte ist seit 1985 | |
dabei. Bei so langer Erfahrung fällt eine szenische Lesung eher unter | |
„kleine Formate“, meint Bohde: „Das geht leichtfüßig.“ Abgesehen von … | |
Proben machen es sich die beiden nicht leicht mit dem Überlebenskampf – dem | |
der Titanic und dem eigenen. | |
Die „Pilkentafel“ ist ein Freies Theater, es gehört zu den acht freien | |
Bühnen in Schleswig-Holstein, die vom Land gefördert werden. Bis Mitte | |
Oktober mussten die Theater ihre Bewerbungen für die nächste Förderrunde | |
abgeben. Ein Selbstgänger, meint Bohde, aus einem pragmatischen Grund: „Wir | |
sind das einzige Haus im nördlichen Landesteil.“ Aber auch mit den | |
Landesmitteln habe die Pilkentafel mehr überlebt als gelebt, heißt es im | |
Programmheft. Und einfacher wird es bestimmt nicht. Elisabeth Bohde führt | |
durch das Haus, das Reichtum und Last zugleich ist. Der Spiel- und | |
Zuschauerraum mit seinen schwarzen Wänden ist in einer alten Werkstatt | |
untergebracht, deren Decke erhöht wurde, um Platz zu schaffen für | |
Scheinwerfer und Technik. Das Wohnhaus beherbergt Büros und eine kleine | |
Wohnung für Schauspieler-Kollegen oder Gastregisseure. Im Erdgeschoss | |
lagern Requisiten, Werkzeug und Putzmittel. Das Theater hat eine | |
Halbtagskraft für Schreibarbeiten und einen FSJler für alles mögliche, aber | |
putzen müssen Bohde und Schütte selbst: Der Stundenlohn der Aushilfe ist zu | |
teuer. Bohde lacht herzlich, als ihr einfällt, dass der neue Mindestlohn im | |
Land von 9,18 Euro die Teilzeitkraft an der Kasse besser stellt als die | |
Ensemble-Mitglieder auf der Bühne. In einer Vereinbarung, die das Theater | |
mit der Stadt Flensburg geschlossen hat – auch die Stadt fördert das Haus – | |
ist festgehalten, dass die Bühne nur überlebt, weil jedes Jahr unbezahlte | |
Arbeit im Wert von 90.000 Euro geleistet wird. | |
Marc Schnittger geht lieber dorthin, wo die Gagen höher sind. Das heißt, er | |
spielt nicht mehr so oft in Schleswig-Holstein. Der 46-Jährige führt ein | |
Ein-Mann-Figuren-Theater, seine Kollegen sind aus Holz, Hartschaum und | |
Leder. Sie liegen zwischen den Aufführungen in Kästen, die sich in | |
Schnittgers Lager- und Werkstattraum stapeln. Hier der „Hamlet“, mit dem er | |
Preise gewann, aber kaum Zuschauer fand: „Ich hatte Geld von Eltern und | |
Freunden zusammengeschnorrt, habe jede Figur aus Naturmaterialien gebaut – | |
und dann interessiert sich kein Schwein.“ Daneben stehen die Kästen mit den | |
Kinderstücken, „Jonas und der Engel“, „Die entführte Prinzessin“, dan… | |
Inszenierungen für Erwachsene, etwa der „Garten der Lüste“, bei dem allein | |
der Titel die Säle füllt – nur eben nicht im Norden. „Ich schätze, ich b… | |
in Straubing bekannter als hier“, sagt der Kieler. Wie ihm geht es vielen: | |
Der Bundesverband der Freien Theater beschäftigte sich bei einer Tagung vor | |
einem Jahr in Bremen mit der Situation der Bühnen in Metropolen und auf dem | |
Land. Reich wird niemand mit freiem Spiel, aber wer Gastspiele geben und | |
dadurch sein Publikum vergrößern kann, ist im Vorteil: In Süddeutschland | |
und in größeren Städten werden Auftritte bei Firmen, in Schulen oder | |
Theatern meist besser bezahlt. Allerdings sind die ständigen Reisen | |
anstrengend, abgesehen von den Kosten: „Ich habe nie ohne einen Autokredit | |
gelebt“, sagt Schnittger. Auch er hat bisher Landesförderung erhalten und | |
erneut seine Bewerbung abgegeben. „Ich hoffe, dass es verlängert wird, ich | |
freue mich über jeden Cent, und es ist auch eine Frage der Reputation“, | |
sagt er. „Aber es wäre nicht der finanzielle Untergang – nicht, weil mein | |
Einkommen so üppig, sondern weil die Förderung so gering ist.“ 7500 Euro | |
gibt es für eine Uraufführung – neues Stück, neue Inszenierung –, für d… | |
Inszenierung eines älteren Stücks 5000 Euro. Zwei Inszenierungen pro Jahr | |
verlangt das Land. Für eine Person allein kaum zu schaffen, aber Schnittger | |
ist schließlich nicht nur Puppenspieler, sondern Unternehmer, der Kollegen, | |
Handwerker, Musik oder Regie bezahlen muss. Auch die Pilkentafel arbeitet | |
oft mit anderen Kunstschaffenden und Handwerkern zusammen: Das Theater in | |
der Werkstatt versteht sich als Theater-Werkstatt – Aufführungen wachsen | |
und entstehen im Probieren mit anderen. Als Unternehmerin würde Elisabeth | |
Bohde sich aber wohl nicht sehen. Sie kam zum Theater, wie es Ende der 70er | |
üblich war: Sie besuchte ein Institut in Frankreich, wo weniger eine | |
Ausbildung stattfand, „sondern eine Debatte, was man mit Theater bewegen | |
kann“. Am Ende gab es keine Prüfung, erst recht keine Noten. Die Praxis | |
lernte die heute 55-Jährige in Workshops. Als sie als Alleinerziehende mit | |
ihrer Tochter nach Flensburg zurückkehrte, kauften ihre Eltern das Haus in | |
der Pilkentafel – „meine Mutter stellte sich so eine Art Ballettschule | |
vor“, meint Bohde. Sie machte stattdessen Theater, Freies Theater mit | |
großem F. | |
Torsten Schütte ist gelernter Tischler, das ist praktisch beim Bühnenbau. | |
Er fing mit Bewegungstheater und Tanz an - „ein Autor, der mit dem Körper | |
Stücke schreibt“, heißt es in der Selbstbeschreibung der Pilkentafel. 30 | |
Jahre nach der Premiere des feministischen Stücks „Wir werden uns | |
leidenschaftlich lieben“ stehen neben Enzensbergers „Titanic“ Stücke von | |
Kafka und des 2006 verstorbenen „Sprachakrobaten“ Oskar Pastior auf dem | |
Programm. Es gehe um neue Formen und Wege, das alte Theater in die digitale | |
Welt zu holen, sagt Bohde. Warum nicht einmal nur für das Netz spielen? | |
„Passt aber nicht zur Förderung“, meint Bohde trocken. Da ist vorgesehen, | |
dass sie und Schütte vor real anwesenden Zuschauern stehen. | |
Marc Schnittger ist wichtig, dass er sein eigener Herr ist und alles selbst | |
bestimmt: Stück, Inszenierung und Puppen. Er baut die meisten Figuren | |
selbst, weiß aber: „Dem wohnt eine gefährliche Nähe zum Kunsthandwerk bei. | |
Zu Basteltheater darf es nicht verkommen.“ Puppenspiel verbinden viele | |
Leute mit Kasperle – und tatsächlich hat Marc Schnittger mehrere Stücke für | |
Kinder im Programm. Aber eben genauso viele für Erwachsene. Sein „Garten | |
der Lüste“ ist Teil einer Trilogie zum gleichnamigen Gemälde von Hieronymus | |
Bosch. „Kindertheater ist wichtig“, sagt er. „Aber es treibt mich zum | |
Erwachsenentheater mit den tieferen Stoffen.“ Figurentheater erlaubt | |
Abstraktion, auf engstem Raum können komplexe Welten entstehen – ein | |
Figurentheater-König wie Neville Tranter, einer von Schnittgers Lehrern, | |
bringt im Alleingang Frankenstein, Macbeth oder Hitlers letzte Tage auf die | |
Bühne. Auch Schnittger fürchtet sich nicht vor Schock-Momenten: „Ich will | |
auf der Bühne Revolte machen und die Sau rauslassen.“ | |
Freies Theater, sagt Elisabeth Bohde, ist schnell: „Wir können auf aktuelle | |
Ereignisse reagieren.“ Hin und wieder hat die Pilkentafel versucht, | |
leichtere Stücke zu inszenieren. Klappte aber nicht so, meint Bohde. Bei | |
allen Geldsorgen und aller Unklarheit, wie es weitergehen soll, könnten sie | |
und Torsten Schütte sich nicht vorstellen, Teil eines | |
Landestheater-Betriebes zu sein. Daher fand sie es auch seltsam, dass im | |
Konzept der für Kultur zuständigen Ministerin Anke Spoorendonk (SSSW) zu | |
lesen, dass die Freien Bühnen mit den öffentlichen kooperieren sollten. Das | |
könne nicht das Ziel sein, meint die Theatermacherin: „Wir würden unsere | |
Identität verlieren, ohne etwas davon zu haben.“ Nach 30 Jahren Arbeit | |
„wäre irgendwie ganz schön, wenn das Land ein klares Signal geben würde, | |
dass wir gewollt und gebraucht werden“, sagt sie. Darauf warten sie noch – | |
an Bord der Titanic, zwischen Untergang und Überleben. | |
20 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Esther Geisslinger | |
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