| # taz.de -- Windprävention auf Nordfriesisch: Sturm und Bange | |
| > Die Schlagzeilen drohten: Der Orkan Xaver würde die Westküste | |
| > Schleswig-Holsteins mit 200 Stundenkilometern überrennen. Unser Autor | |
| > wurde zur Sturm-Prävention nach Nordfriesland gerufen. | |
| Bild: Xaver hat das Schaukeln auf der Hallig Langeneß unterbrochen - aber die … | |
| Es ist 10 Uhr am Donnerstagvormittag. Ich sitze am Tisch und warte. Warte | |
| auf den Sturm. Draußen ist es hell, drinnen am Tisch ist es dunkel. Meine | |
| Mutter hat die Rolladen heruntergelassen. „NDR 3 hat gesagt, der Wind wird | |
| 200 Kilometer schnell. Sogar Berlin soll getroffen werden.“ Ich nicke | |
| meiner Mutter zu und frage, wo mein Vater ist. Draußen im Stall, sagt sie. | |
| Er halte das Pferd fest. Beim Sturm „Christian“, als es laut geknackt hatte | |
| und die große Eiche entzweibrach, hätte das Tier drunter gestanden und | |
| danach am ganzen Leib fürchterlich gezittert. | |
| Ich frage, ob wir das Radio einschalten sollen. Sie verneint. „Der schrille | |
| Unterton macht mich nervös.“ Sie wisse auch so Bescheid, sagt sie. „Fährst | |
| du bitte noch zu Aldi?“ „Xaver“ werde am frühen Nachmittag über uns kom… | |
| Das wäre in wenigen Stunden. Ich will sagen, dass es schon nicht so | |
| dramatisch ablaufen wird und kenne ihre Antwort. Ich habe sie bereits zwei | |
| Tage zuvor gehört. | |
| ## 1978 ist Antwort genug | |
| Es war am Dienstagabend. Meine Mutter rief mich in Kiel an. „Der Sturm soll | |
| schlimmer werden als der letzte!“, schrie sie lauter als im Hintergrund der | |
| Wettersprecher im Fernsehen. „Kannst du nicht schon heute Abend kommen und | |
| deinem Vater helfen?“ So dramatisch wird es bestimmt nicht werden, sagte | |
| ich und ihre Antwort war eine Jahreszahl: 1978. Die Schneekatastrophe. | |
| Meterhohe Schneeverwehungen schnitten das Dorf damals ab von der Außenwelt. | |
| Mit der Dramatik, so viel verriet ihr Schweigen, hatte damals auch niemand | |
| gerechnet. Überhaupt, ich sei doch vor fünf Wochen bei ihnen gewesen. Ob | |
| ich mit der Wucht von „Christian“ gerechnet hätte? Nein. In Ordnung, ich | |
| fahre gleich morgen früh. | |
| Allein auf unserem Grundstück hatte „Christian“ vier Kiefern umgebrochen. | |
| Eine fast hundertjährige Eiche steht nur noch zur Hälfte. Für Stunden waren | |
| alle Zufahrtswege zu unserem Haus und den Nachbarn versperrt. Schwere | |
| Tannen und Bäume legten sich wie Bahnschranken über den Asphalt. Ein Baum | |
| zog dabei einen Meter Stromkabel aus der Erde und unterbrach die | |
| Energieversorgung im Dorf. | |
| ## Wegfliegendes Inventar | |
| In der Stadt schloßen die Geschäfte ihre Türen, weil bei jedem Kunden, der | |
| eintrat, das halbe Inventar durcheinander zufliegen drohte. In den Wäldern | |
| sah und sieht es aus, als hätte die Bundeswehr sich mit Artillerie zum | |
| Truppenübungsplatz geschossen. Jeder, mit dem ich sprach, sagte, so einen | |
| Sturm hätte er noch nie erlebt. | |
| Am Mittwochmorgen um 9 Uhr treffe ich zu Haus ein. Mit meinem Vater räume | |
| ich Mülltonnen in den Pferdestall, ziehe Blumenkübel in Hauswinkel, wir | |
| hieven einen Eichenpfahl die Leiter hoch auf den Carport und legen ihn auf | |
| die Plastikplane, die die Löcher bedeckt, die „Christian“ in das Dach | |
| gewühlt hat. | |
| Auf der anderen Seite des Hauses steht seit fast vierzig Jahren eine | |
| Kiefer. Bei Wind reibt sie gegen die Regenrinne des Daches. Bis vor fünf | |
| Wochen ragten dort noch zwei weitere Kiefern in den Himmel. Sie hielten den | |
| Böen nicht stand. Nun steht die einzelne Kiefer ohne ihre Nachbarn direkt | |
| im Wind. Mit einem Seil binden wir auf vier Meter Höhe eine Schlinge um den | |
| Stamm, legen sie um eine geköpfte Eiche und ziehen stramm. Vielleicht | |
| bliebe so das Dach verschont, hofft mein Vater. | |
| Um halb elf bin ich beim Aldi-Parkplatz. Erste Böen drücken gegen die | |
| Autos. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb sind viele Menschen mit ihren | |
| Einkaufswagen unterwegs. Ich kaufe einen Beutel Teelichter, sollte der | |
| Strom ein weiteres Mal ausfallen und höre, dass die Schulen geschlossen | |
| wurden. Um 12.30 Uhr löst Nordfrieslands Landrat den Katastrophen-Voralarm | |
| aus, die Deichgänger müssen ausrücken. Zu Hause kaut meine Mutter | |
| mechanisch Ingwerstücke klein, während sie die Wetter-Liveschaltungen im | |
| Fernsehen verfolgt. | |
| Die Programmvielfalt ist in sich zusammengeschrumpft. Alle Sender haben | |
| ihre Reporter an die Sturmfront entsandt. Am Hamburger Fischmarkt stehen | |
| sie knöcheltief in Wasser, mit zusammengekniffenen Augen rufen sie heiser | |
| in Mikrofone und stemmen sich gegen den Wind. Am Dagebüller Fähranleger, 30 | |
| Kilometer von uns entfernt, fegt der Wind anscheinend so stark über das | |
| Meer, dass sich eine Reporterin angekettet hat. Die Welt vor dem Abgrund. | |
| Um 15 Uhr wird im Kreis Nordfriesland der Busverkehr eingestellt. | |
| ## Das Pferd fest verankert | |
| Meine Mutter bittet mich, die Fußabtreter hereinzubringen. „Die werden | |
| schon nicht wegfliegen“, erwidere ich. Sie besteht drauf und schickt mich | |
| nach meinem Vater zu sehen. Der Wind zieht mir fast die Mütze vom Kopf. Aus | |
| dem Stall dringt lautes Hämmern. Ich stelle mir vor, wie mein Vater das | |
| Pferd fest im Boden verankert. Aber es ist nur ein Fensterrahmen, vom Wind | |
| los gedrückt, den er zurück in die Wand nagelt. Ich mache mich auf den Weg | |
| zur Feuerwache, um Informationen über die Sturmsituation im Dorf | |
| einzuholen. | |
| Die Straßen im Dorf sind leer. Immer wieder schießen Böen in die | |
| Baumkronen. Die Luft riecht 13 Kilometer entfernt von der Nordsee nach | |
| Salz. Im Dachgeschosszimmer eines alten Freundes brennt Licht. Vor fünf | |
| Wochen war es hier dunkel. Er musste wegen des Sturms bei seiner | |
| Arbeitsstelle auf Sylt nächtigen. Die Bahn hatte den Verkehr von der Insel | |
| eingestellt. „Christian“ kennt er nur vom Hörensagen. | |
| Als ich verkühlt eintrete, schaut er gelangweilt in den Fernseher. Aus | |
| Mangel an Alternativen läuft Ice Age II, aber das Rattenhörnchen löst bei | |
| ihm kein Lachen aus. Ob er wegen des Sturms besorgt sei, frage ich. Er | |
| schaut zum Veluxfenster und hebt die Schultern. „Ist doch nicht so schlimm. | |
| Im Normalfall, was soll passieren?“ Aber es ist ja eben kein Normalfall, | |
| entgegne ich. Draußen zerrt dir der Wind die Nase vom Gesicht! „Es kommt, | |
| wie es kommt. Machen kannst‘ sowieso nichts.“ | |
| Ich gehe weiter zur Feuerwache. Dort herrscht professionelle Gemütlichkeit. | |
| Man sitzt am Tisch und redet. Ich frage nach Einsätzen. Der Wehrführer | |
| schaut mich bedauernd an. „Es ist relativ ruhig“, sagt er. „Im Gegensatz … | |
| den Vorhersagen.“ Bei „Christian“ seien 55 Mann im Einsatz gewesen, heute | |
| sind es 15. Seit 14 Uhr sei man dabei, jetzt ist es 22 Uhr. Vier Einsätze | |
| in acht Stunden. „Alle morschen Bäumen sind beim letzten Mal | |
| runtergekommen.“ Eine Live-Schaltung aus der Dorf-Feuerwehr und ich hätte | |
| die Fußmatten liegen lassen dürfen. | |
| Ich schaue ein letztes Mal bei meinem Kollegen vorbei. Der ist nun deutlich | |
| unruhiger. Rambo sitzt nackt in einer Jauchegrube. Aber es ist nicht das | |
| Fernsehprogramm, das meinen Kollegen nervös macht. Er schaut hinüber zum | |
| Veluxfenster. Dort zerrt der Wind am Glas. Auf dem Schreibtisch davor steht | |
| eine gefüllte Dokumentenablage. Er stellt den Fernseher stumm. Für einen | |
| Moment ist es still. Dann fängt es leise an zu knirschen. Ein Pochen, ein | |
| zähes Reißen und ein Dehnen im Fensterrahmen. Es klingt wie das Geräusch im | |
| Innern eines U-Boots, wenn es zu tief abgetaucht ist. Wenn die Außenhülle | |
| langsam zerdrückt wird vom Druck des Wassers. Mein Kollege hechtet vom Sofa | |
| und drückt den Hebelgriff des Veluxfensters herunter. Dann hebt er die | |
| Dokumentenablage vom Schreibtisch und schieb sie unter die Couch. „Zur | |
| Sicherheit.“ | |
| ## Ein sehr reales Knirschen | |
| Auf dem Weg nach Hause klatscht mir der Schneematsch wie eine Ohrfeige ins | |
| Gesicht. Ich genieße den Wind, bis die Bäume um mich herum anfangen zu | |
| knirschen. In der Psychologie heißt es, Angst sei eine erlernte | |
| Basisemotion. Sie kommt aus der Erfahrung, ihr Auftreten muss nicht | |
| notwendigerweise real begründet sein. Anders als Furcht. Sie gilt als | |
| objektbezogene Empfindung. | |
| Das Knirschen ist kein abstraktes Geräusch und was ich empfinde, muss also | |
| wohl Furcht sein. Als „Christian“ tobte, waren vor mir im Auto eine große | |
| Tanne und zwei Bäume auf die Straße gebrochen. Das Geräusch der | |
| zerberstenden Stämme liegt mir noch heute fürchterlich in den Ohren. Ich | |
| gehe nun schneller durch die Sturmböen hinweg. | |
| Zu Hause angekommen marschiere ich in den Stall. Dort steht mein Vater. Er | |
| hat seinen Arm beruhigend um den Hals des Pferds gelegt. Angesichts des | |
| Sturms stehen beide so bewegungslos da, dass ich mir plötzlich nicht mehr | |
| sicher bin, wer hier eigentlich wen festhält. Aber die Nacht sollte | |
| glimpflich verlaufen. Das Pferd und mein Vater sind auch am nächsten Morgen | |
| noch da. Die Kiefer am Haus wankte, aber auch sie blieb stehen. | |
| 9 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| E. F. Kaeding | |
| ## TAGS | |
| Xaver | |
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