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# taz.de -- Oh Tannenbaum: „Kommst Du Baum holen? LG Papa“
> Der Baum im Wohnzimmer gehört für viele Menschen zu Weihnachten dazu.
> Unsere Autorin pflegt dazu ein besonderes Ritual. Sie und ihr Vater holen
> sich am 24. Dezember ihren Weihnachtsbaum direkt aus dem Wald.
Bild: Eigentlich gibt es keinen Grund, einen Baum zu holen - aber das Holen geh…
HAMBURG taz | Diese Geschichte könnte Ärger geben. Denn es ist sicher nicht
in Ordnung, etwas zu stehlen. Und am 24. Dezember einen Baum aus dem Wald
zu holen, zählt wohl dazu. Wenn das jeder machen würde. Macht aber nicht
jeder. Nur mein Vater und ich.
Wir gehen jedes Jahr mit der orangefarbenen Handsäge los, um im Wald einen
Baum abzusägen, ihn im Wagen meiner Mutter nach Hause zu bringen, im
Wohnzimmer an den immer gleichen Platz zu stellen und mit roten Kugeln und
anderen Dingen zu behängen. Früher gab es mal Lametta, das meine Mutter
nach Weihnachten ordentlich in die Verpackung zurückgelegt hat – bis zum
nächsten Jahr. Heute nicht mehr.
Vom Baumschmuck der ersten Jahre sind kleine Holzfiguren übrig. Meine
liebste ist ein Männchen, das mittlerweile etwas schief auf einem Schlitten
sitzt. Vor ein paar Tagen habe ich eine SMS von meinem Vater bekommen:
„Kommst Du Baum holen? Meld Dich mal. LG Papa.“
Warum wir damit angefangen haben, weiß ich nicht. Ich bin damit
aufgewachsen. In meiner Familie erzählt man es sich so: Als meine Eltern
Ende der 70er Jahre aus der Stadt herzogen, hat uns der Förster in einem
Winter mal erlaubt, einen Baum aus einem bestimmten Teil des Waldes zu
holen. Meine Schwester und ich dachten, diese Erlaubnis bestehe weiter. Ich
wusste bald, dass dem nicht so war. Als meine Schwester das mitbekam, war
sie einigermaßen empört.
Schließlich gibt es für uns eigentlich keinen Grund fürs Baum holen. Es ist
nicht so, dass wir aus der Not heraus handeln. Etwa wie in Wolfdietrich
Schnurres wunderbarer Vater-Sohn-Geschichte „Die Leihgabe“, die zur Zeit
der Weltwirtschaftskrise in Berlin spielt.
Ein alleinerziehender und arbeitsloser Vater will seinem Sohn Bruno ein
schönes Weihnachtsfest bescheren. Doch das Geld reicht nicht mal, um die
Wohnung zu heizen. Schließlich hat der Vater eine Idee: „Einen Baum
stehlen, das ist gemein; aber sich einen borgen, das geht.“
So wie in Schnurres Geschichte Weihnachten ohne Baum kein richtiges
Weihnachten ist, gehört für uns das Holen des Baums zum 24. Dezember dazu.
Ich komme gegen Mittag bei meinen Eltern an. Meine Mutter hat schon alles
vorbereitet.
Es gibt erstmal einen Kaffee und selbstgebackene Kekse, der Orangenpunsch
steht für später auf dem Herd und sie hat alte Handtücher in den Kofferraum
ihres Wagens gelegt. Wegen der Nadeln. Auch die armlange Handsäge und zwei
Paar Arbeitshandschuhe liegen im Auto. Wir müssen nur einsteigen und
losfahren.
Wir erkennen unseren Baum sofort. Er ist maximal 1,80 Meter hoch,
untenherum ist er nicht zu ausladend, er verjüngt sich möglichst
gleichmäßig nach oben bis zur halbwegs geraden Spitze und zwischen den
Ästen dürfen nicht zu große Löcher sein.
Manche Unebenheit können wir später beim Schmücken kaschieren oder wir
drehen die nicht so schöne Seite Richtung Fenster. Die Nadeln müssen kurz,
drahtig und sattgrün sein. Wir hatten auch mal eine Blautanne und eine mit
eher platten und weichen Nadeln. Aber das war nichts.
Auch die Aufgabenverteilung steht. Ich fahre das Auto und nehme die
Handschuhe mit. Mein Vater trägt die Säge. Im Wald angekommen stromern wir
los und wer einen Kandidaten findet, ruft den anderen herbei. Dann
umkreisen wir den Baum, mein Vater klopft auf die Äste und wir sagen „Mh,
die Nadeln sind gut, aber der hat ja drei Spitzen und der Stamm ist krumm“
oder: „Sehr gut gewachsen, aber viel zu groß“.
Manchmal finden wir unseren Baum sofort. Dann suchen wir noch mindestens
eine halbe Stunde weiter. Wer weiß, ob nicht ein besserer weiter hinten
wartet. Außerdem wäre unser Vater-Tochter-Ritual sonst viel zu kurz.
Haben wir uns entschieden, beugt mein Vater sich runter, verschwindet mit
dem Oberkörper unter der letzten Astreihe und sägt. Er wackelt, mit ihm der
Baum. Ich halte die Spitze fest und gucke zu, wie mein Vater laut vor sich
hin prustet. Der Durchmesser des Stamms misst meist so 15 Zentimeter und
seit mein Vater vor ein paar Jahren das längst stumpf gewordene Sägeblatt
durch ein neues ersetzt hat, ist der in weniger als einer Minuten
durchgesägt.
Ich hebe den Baum vom Stumpf, mein Vater greift die Spitze, hebt den Baum
ein paar Mal hoch und trumpft ihn auf dem Waldboden auf. Lose Nadeln fallen
ab. Wenn es nötig ist, sägt er die untersten Äste ab. Es muss genug Stamm
da sein, um den Baum in den Weihnachtsbaumständer zu klemmen.
Einer vorn und einer hinten laufen wir mit dem Baum zurück zum Auto.
Problematisch wird für immer das Verstauen im Kofferraum bleiben. Schieben
wir den Baum mit dem Stamm voran hinein, verhaken sich die Äste beim
Ausladen und können abbrechen. Andersherum können die Äste beim Einladen
abbrechen, wenn wir uns für die Spitze-zuerst-Variante entscheiden.
Theoretisch könnten wir einfach einen Waldspaziergang machen und auf dem
Rückweg einen Baum kaufen. Das haben wir auch einmal gemacht. Es nieselte
ein bisschen und dämmerte schon und wir dachten uns, ach, lass uns die
Sägerei lassen und einfach einen Baum kaufen. Es ist eine Tanne mit krummem
Stamm, dünnen, sehr hellen Nadeln, ein paar schiefen Ästen und
ausgefranster Spitze geworden. Wir haben den kümmerlichsten Baum
ausgesucht, den der Verkäufer noch da hatte.
Als wir den zu Hause aus dem Auto holten, sagte meine Mutter: „Och, der ist
aber nett.“ Mit genug Kugeln könne man was draus machen. Wir sind nochmal
los, haben einen richtigen Baum aus dem Wald geholt und uns in dem Jahr die
Notwendigkeit unseres Rituals bewiesen. War ja ganz eindeutig, dass der
gekaufte Baum mies war.
Um unser Dorf herum gibt es sehr viel Wald und ich kenne mich gut aus.
Früher bin ich hier geritten. Mittlerweile könnten mein Vater und ich eine
Statistik über die Entwicklung der Nadelbaumbestände und
Weihnachtsbaumplantagen führen. Es gibt ein paar feste Orte, die wir immer
abklappern. Eine unserer Lieblingsstellen ist in der Nähe der
Standortschießanlage.
Hier ist schon mal die Säge und einmal auch der bereits abgesägte Baum in
hohem Bogen zurück in den Wald geflogen, weil uns Spaziergänger
entgegenkamen. „Guten Abend! Frohe Weihnachten, ja wirklich schön hier, so
friedlich. Tschühüß!“ Wir schlenderten möglichst unauffällig weiter, bis
die Leute außer Sichtweite waren, um dann zurückzulaufen und Säge
beziehungsweise Baum zu suchen.
Bis vor ein paar Jahren haben wir hier oft unseren Baum gefunden, heute
gibt die Stelle nicht mehr viel her. Überhaupt waren die Bäume mal schöner
– oder ich war nur kleiner und fand alle gleich schön. Das weiß ich nicht
genau.
Erst vor ein paar Jahren haben wir auch Weihnachtsbaumplantagen für uns
entdeckt. Eigentlich geht das nicht und es ist auch nur eine Notlösung.
Doch irgendwann war im Wald einfach kein Baum zu finden, wir sind eine
halbe Ewigkeit durch den Landkreis gefahren und ohne Erfolg durch diverse
Waldstücke gelaufen. Ohne Baum heimfahren geht nicht und die Verkaufsstände
machen am 24. Dezember meist schon um 14 Uhr zu.
Wenn wir losziehen, ist da also weit und breit niemand mehr. Einmal sind
wir dann über den Zaun. Da fing es an, dass wir uns Geschichten ausgedacht
haben, für den Fall, dass jemand kommt und uns beim Sägen überrascht.
Geschichten wie, meine Tochter ist überraschend aus den Staaten zu Besuch
gekommen und wir hatten keinen Baum, das geht doch nicht, das verstehen Sie
sicher. Bisher mussten wir noch niemandem unsere Geschichten erzählen.
Vor ein paar Jahren, ich glaube es war Weihnachten 2002, waren die
Feiertage total vereist und es herrschte ziemliches Chaos auf
Niedersachsens Straßen. Wir mussten zu Fuß los und es gab nur die
Weihnachtsbaumplantage eine Straße weiter. „Du darfst dir nur nichts
anmerken lassen, guck souverän, dann fragt auch keiner“, sagte mein Vater.
Wir haben unseren Baum dann mitten durchs Dorf nach Hause getragen. Und
sahen dabei so souverän aus, dass uns niemand gefragt hat, was wir da
eigentlich tun.
Jede einzelne Nadel war mit einer dicken Eisschicht überzogen und als wir
mit dem Baum ins Wohnzimmer kamen, scheuchte uns meine Mutter gleich wieder
raus. Wir standen dann eine ganze Weile mit Orangenpunsch in der Garage und
haben den Baum gefönt.
Vielen ist Weihnachten mit der Familie nicht recht und sie fahren nur aus
Pflichtgefühl zu ihren Eltern. Ich fahre gern nach Hause, auch weil ich mit
meinem Vater einen Baum stehle. Dieses Jahr werden wir wieder zuerst zur
Standortschießanlage fahren. Vielleicht hat sich ja was getan und wir
finden dort unseren Baum.
23 Dec 2013
## AUTOREN
Ilka Kreutzträger
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