# taz.de -- Videokunst: Entfesselte Bilder | |
> Hitchcock oder Buñuel: Das Künstlerduo Christoph Girardet & Matthias | |
> Müller, beide Absolventen der Braunschweiger Kunsthochschule, entbinden | |
> Filmbilder ihres funktionalen Charakters. | |
Bild: Beschäftigung mit dem surrealistischen Film: "Cut" ist die aktuellste in… | |
Künstlerische Zweierteams sind keine Seltenheit. Und doch stellt sich bei | |
ihnen immer die Frage, wie sie funktionieren: Wer übernimmt da welchen Part | |
– und dominiert nicht einer den anderen? Sowohl allein als auch zusammen | |
arbeiten die Videokünstler Christoph Girardet, geboren 1966 im | |
niedersächsischen Langenhagen, und Matthias Müller, Jahrgang 1961 aus | |
Bielefeld. Sie dürften also wissen, welche Vor- und Nachteile diese | |
Arbeitsweisen haben und welche Qualitäten der Partner in eine gemeinsame | |
Arbeit einbringen kann. | |
Sie hatten das Glück, ihre Zusammenarbeit mit Auftragsproduktionen beginnen | |
zu können. Die erste stellte die beiden sogar in den prominenten Kontext | |
einer Cindy Sherman und eines Douglas Gordon: in einer Ausstellung zum 100. | |
Geburtstag des Filmregisseurs Alfred Hitchcock. Dazu destillierten Girardet | |
& Müller im Jahr 1999 visuell tragende Motive aus 40 Hitchcock-Filmen. Und | |
verfestigten so auch ihre künstlerische Methode: Sie kombinieren | |
vorhandenes Filmmaterial, „found footage“, nach ästhetischen wie narrativen | |
Momenten neu. | |
## Gefundenes Material | |
Der Kunstverein Hannover zeigt jetzt einen repräsentativen Querschnitt aus | |
14 Jahren Zusammenarbeit Girardets und Müllers, die sich in mehr als 20 | |
Filmen unterschiedlicher Länge niedergeschlagen hat. Würde man sämtliche | |
Beiträge der Ausstellung ganz anschauen, käme man locker auf | |
Spielfilmformat. Betitelt ist die Ausstellung „Tell Me What You See“: nicht | |
nur Anglizismus und Verweis auf das visuelle Medium Film, sondern auch eine | |
Beschreibung dialogischen Arbeitens: Der eine erzählt dem anderen, was er | |
von einer Idee hält, was er in einer Filmszene sieht, wie er sie | |
interpretiert. | |
Kennen gelernt haben sich Christoph Girardet und Matthias Müller an der | |
Kunsthochschule Braunschweig, wo beide in den späten 1980er Jahren bei | |
Birgit Hein studierten. Ihre Klasse sei das Epizentrum des experimentellen | |
Films in Deutschland gewesen, so Müller, ein vitaler Ort, an dem es richtig | |
zur Sache ging. Müller hat seit 2003 nun selbst eine Professur für | |
Experimentalfilm inne, an der 1990 gegründeten Kunsthochschule für Medien | |
in Köln, einer Institution interdisziplinärer Lehrangebote aus der | |
Schnittmenge von Film, Kunst und Wissenschaft. | |
## Traumwelt im All | |
Müllers Statements zur gemeinsamen Arbeit kommen mit der Routine und dem | |
Sendungsbewusstsein eines Lehrenden daher, während Christoph Girardet eher | |
den bizarren Humor des erfinderischen Tüftlers pflegt. Da ist zum Beispiel | |
sein Kommentar zum Film „Meteor“ aus dem Jahr 2011: In diesem wohl | |
narrativsten Produkt von Girardet & Müller träumt sich ein kleiner Junge in | |
eine phantastische Welt im All. | |
Schwarz-weiß-Szenen aus den 1930 bis 40er Jahren sind mit farbigen aus der | |
Mitte des 20. Jahrhunderts verschnitten, die Tonspur ist sonor | |
eingesprochen vom britischen Filmemacher John Smith. Girardet sieht seine | |
mediale Initiation während der Kindheit gerade in der Science Fiction, | |
genauer: der sowjetischen. Dort sei das Weltall immer grau, und wenn die | |
Reisenden irgendwo ankämen, sei da auch nichts Spektakuläres, anders als in | |
US-Filmen. Nur die Phantasie trage die Erzählung. | |
Einen großen Bogen schlägt auch „Locomotive“ (2008): Für das | |
Bewegtbild-Triptychon wurden rund 200 Spielfilme verschnitten. Die | |
dreikanalige Videoinstallation zeigt, perfekt choreographiert, filmische | |
Stereotype: fahrende Lokomotiven, die in einem finsteren Tunnel | |
verschwinden oder aus ihm wieder herauskommen, aus dem Zug herauspurzelnde | |
Passagiere, die melancholische Stimmung einsam Reisender. Diese in den | |
Originalen nicht unbedingt wesentlichen Szenen werden per theatralischer | |
Tonspur zu einem Epos von Abschied, Einsamkeit und auch nahendem Tod. Das | |
öffnet die Augen für die unterschwellig emotionalisierenden Instrumente des | |
klassischen Kinos und ist zweifellos unterhaltsam, in der Gesamtlänge von | |
gut 20 Minuten inhaltlich aber doch etwas schütter. | |
Natürlich legt die Arbeitsweise von Girardet & Müller den Vergleich zur | |
Collage der bildenden Kunst nahe. Diese Kunstform einer europäischen | |
Avantgarde nach dem ersten Weltkrieg erfährt derzeit eine Renaissance, auch | |
wenn der gesellschaftskritische Impetus etwa eines Kurt Schwitters fehlt. | |
## Heilsversprechen und Blut | |
In der aktuellsten Arbeit der Ausstellung, dem Film „Cut“ von 2013, | |
beschäftigen sich Girardet & Müller so auch mit dem surrealistischen Film, | |
etwa Luis Buñuels und Salvador Dalís Meisterwerk „Un chien andalou“ aus d… | |
Jahr 1929. Auch ohne direktes Zitat ist da der ikonisch gewordene Schnitt | |
durchs Auge als Referenz präsent. Dazu kommen Szenen von Wunden – aber auch | |
Heilsversprechungen – und Blut in variantenreichen Formen. Diese visuelle | |
Montage ohne Erzählstrang dürde auch mal wehtun, so Girardet. | |
In einem großen Lichtkasten im Nebenraum, ihrem Seziertisch, sind Ausdrucke | |
der Schnittfolgen versammelt. Sie zeigen die bewusste Dekonstruktion der | |
Imaginationsmaschine Spielfilm: es gibt keine Anschlüsse mehr, jene sonst | |
von der Continuity penibel überwachte lückenlose Plausibilität von | |
Ausstattung, Kostüm und Zeitablauf. Girardet & Müller entfesseln den Film: | |
zum eigenständigen ästhetischen Ereignis. | |
## Christoph Girardet & Matthias Müller, „Tell Me What You See“: bis 16. | |
März, Kunstverein Hannover | |
17 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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