| # taz.de -- Die Wahrheit: Auf der Arschterrasse | |
| > 3.200 Veranstaltungen in viereinhalb Tagen: Zum Auftakt der Leipziger | |
| > Buchmesse liefert die Wahrheit eine dringend benötigte Orientierung. | |
| Bild: Leider fehlt der sichtlich bibliophile Karl Lagerfeld auch in diesem Jahr… | |
| Seit nunmehr vier Jahren gibt es sie, die „Goldene Schnarchtasse“, | |
| verliehen für die unschönste Veranstaltung, die deprimierendste, zäheste | |
| Lesung, den verblasensten Auftritt auf der Leipziger Buchmesse. Der Andrang | |
| ist groß, das Bewerberfeld geradezu unüberschaubar, und der Preis dient als | |
| zuverlässige Orientierung für all diejenigen, die sich bei der Überfülle | |
| des Angebots nicht entscheiden können, wohin sie auf keinen Fall gehen | |
| wollen. | |
| Zur spitzzüngigen Prolldiva Desirée Nick womöglich, die einem unbedingt | |
| „Neues von der Arschterrasse“ erzählen will? Zum „teilzeitliterarischen | |
| Semistextett“ mit Luci van Org, die irgendwie „Dinge mit Texten“ macht? Am | |
| Ende steht man in dem Workshop „Origami für fortgeschrittene Faltkünstler“ | |
| oder man landet beim Pädagogen-Blockbuster „Kompetenzorientiertes | |
| Unterrichten und Umgang mit Heterogenität in den Fächern Politik und | |
| Wirtschaft“. | |
| Eine „Goldene Schnarchtasse“, als Logo neben den ausgewählten | |
| Veranstaltungen platziert, könnte hier wohltuend abschreckend wirken. Und | |
| verhindern, dass das Unvermeidliche geschieht und man am Ende doch in einer | |
| stupiden Lyrikrunde festhängt oder ausufernde Podiumsdiskussionen zur Lage | |
| des Gemeinplatzes in Europa über sich ergehen lassen muss. „Leipzig liest“ | |
| – das ist ein Overkill an Lesungen nicht nur auf dem Messegelände, wo | |
| Fachleute für 2014 prognostizieren, diesmal könnte das komplette Publikum | |
| der Glashalle in den Sekundenschlaf fallen. | |
| In ganz Leipzig sollen es über 3.200 Veranstaltungen in den viereinhalb | |
| Messetagen sein, gleichzeitig, nacheinander, durcheinander, gern an den | |
| ungeeignetsten Veranstaltungsorten. Gelesen wird im Fundbüro, bei Frau | |
| Krause, auf dem Bahnhofsbahnsteig, in der Kita Coppistraße. Sogar die | |
| Wärmehalle Süd bleibt nicht verschont. Auch nicht die Pension zum Zoo. Im | |
| gesamten Stadtgebiet lauern einem rund um die Uhr Schriftsteller und | |
| Autorinnen auf, die etwas vorlesen, vormachen und vortragen wollen. Das | |
| Ärgerliche dabei ist: Man kann nicht überall nicht sein. | |
| ## Hübsch verschnarcht und eminent verblasen | |
| Die „Goldene Schnarchtasse“ soll auch das Bewusstsein schärfen für die | |
| Zumutungen und öden Alfanzereien, die von Wortstapeln ausgehen, die als | |
| Roman, als Gedicht, als Essay oder was auch immer getarnt, aufgetürmt und | |
| einem wehrlosen Publikum oktroyiert werden. Lesungen sind alles andere als | |
| harmlos. Der Blutdruck sinkt, die Duldungsstarre des sedierten Publikums | |
| geht manchmal in fossile Strukturen über. Bei Ausgrabungen auf dem | |
| Messegelände sind Zuschauergruppen entdeckt worden, die seit dem letzten | |
| Jahr dort sitzen geblieben waren. Eingeschlafen. Dahingedämmert. | |
| Weggeschnarcht. Soll sich das in diesem Jahr wiederholen? | |
| Im Literaturcafé der Halle 4 liest Matthias Günther Geschichten aus seinem | |
| Buch „Nötige Düfte“. Es ist eine Lesung mit Musik und mit „leise | |
| eingeatmeten Düften, notiert in Warteräumen, angereichert durch duftige | |
| Phantasie“. Im Sachbuchforum gibt es Anekdoten zu hören unter dem Titel: | |
| „Wie werde ich Jude? Und wenn ja, warum?“ Will man das wissen? Und wenn ja, | |
| warum nicht? | |
| Hübsch verschnarcht und eminent verblasen, wenn nicht aufgeblasen, | |
| verspricht der Vortrag des frivolen Faktotums Matthias Eckoldt zu werden, | |
| der mit einem selbst geschriebenen Essay „das westliche Verständnis von | |
| Freiheit hart auf die Probe stellt. Ganz anders als manche Politiker […] | |
| uns glauben lassen, identifiziert er nicht Demokratie mit individueller | |
| Freiheit. Diese neuen Gedanken, die den Leser stark fordern, können zu | |
| Verwirrungen und Widerspruch führen.“ Der Abend heißt „FreiheitsMärchen … | |
| MärchenFreiheit“. Dazu gibt es Softpornofotos von Scheherazade und der | |
| Prinzessin auf der Erbse. Und das Ganze findet, nicht einmal zu Unrecht, im | |
| Clownsmuseum statt. | |
| Nicht verwunderlich wäre, wenn aus der „Goldenen Schnarchtasse“ in diesem | |
| Jahr ein ganzes Schnarchservice werden sollte. Denn auch im Ringcafé wird | |
| der gesunde geografische Menschenverstand „hart“ auf die Probe gestellt bei | |
| der Lesung von Anja Goerz: „Der Osten ist ein Gefühl“. Wem daraufhin der | |
| innere Kompass abhandenkommt, der erwacht unerwartet und unbeglückt bei dem | |
| Standup-Vortrag „Männopause – Der Mann in seinen besten Jahren“ mit dem | |
| „urkomischen“ Ralf Linus Höke. Und schläft wieder ein bei „Erfolg haben… | |
| Selbstmarketing“, wenn der weithin unbekannte Autor Arno Strobel erzählt, | |
| wie er es geschafft hat, sich als Autor bekannt zu machen. | |
| Eine Tasse, nebenbei, ist die „Goldene Schnarchtasse“ nicht. Der oder die | |
| Preisträger sind aufgefordert, einen Secondhandladen aufzusuchen und dort | |
| ein Foto zu machen von einer möglichst deprimierenden, bemerkenswert | |
| unbemerkenswerten Tasse ihrer Wahl. Und das Foto dann – im Rahmen einer | |
| kleinen Eigenlesung von Vor- und Zunamen, Anschrift und Geburtsdatum – auf | |
| ihr Passbild im Personalausweis zu pappen. | |
| 12 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Horst Schildge | |
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