# taz.de -- Pünktlichkeit im Alltag: Warum eigentlich? | |
> Ohne Uhr gibt es kein Zuspätkommen. Leider gibt es kein Alltagsleben ohne | |
> Uhr. Und so tragen wir permanent einen inneren Konflikt um Pünktlichkeit | |
> aus. | |
Bild: Auch eine Lösung. | |
Vergangene Nacht hatte ich einen Traum: Ich war immer pünktlich. Egal zu | |
welchem Termin, welcher Deadline oder welcher Tageszeit. Ich schaffte alles | |
ohne Stress. Es fühlte sich wunderbar an. Bis ich aufwachte – eine halbe | |
Stunde zu spät, wie mein Wecker mir signalisierte. Dessen Klingeln hatte | |
ich einfach überhört. | |
Ich hastete also gestresst aus dem Bett, erledigte meine Morgentoilette in | |
völliger Hektik, verzichtete auf mein Frühstück – und kam trotzdem zu spät | |
zu meinem ersten Termin. Nicht jedoch ohne die Erkenntnis: Es muss sich | |
etwas ändern. Ich möchte nicht mehr so oft unpünktlich sein. | |
Ich nahm das Ereignis als Anlass, über Worte wie „Zeitmanagement“, | |
„Zeitkompetenzen“ und meine eigene Unpünktlichkeit nachzudenken. Warum | |
passiert es mir immer wieder, dass ich Termine nicht zu gesetzten Uhrzeiten | |
einhalte? Vor allem, wo ich doch eigentlich eine gut organisierte Person | |
bin? | |
## Autonomiekonflikt | |
Der Heidelberger Psychologe Roland Kopp-Wichmann erklärt dieses Phänomen | |
so: „Wer chronisch zu spät kommt, befindet sich unbewusst in einem inneren | |
Konflikt.“ Kopp-Wichmann teilt die Menschen in drei verschiedene Gruppen | |
von Unpünktlichen ein: die, die immer ein paar Minuten zu früh da sind. Sie | |
fürchten sich laut Kopp-Wichmann davor, etwas falsch zu machen oder | |
unangenehm aufzufallen. | |
Eine weitere Gruppe bilden jene, die im großen Stil eine halbe Stunde oder | |
sogar später kommen. Sie lieben den großen Auftritt und räumen sich durch | |
ihre Verspätung einen Besonderheitsstatus ein, so Kopp-Wichmann. Und dann | |
wäre da doch Gruppe Nummer drei, zu der auch ich zähle: diejenigen, die | |
immer nur ein paar Minuten zu spät kommen. „Pünktliche Unpünktlichkeit“ | |
nennt Kopp-Wichmann dieses Verhalten. Laut seiner Expertise liegt die | |
Ursache dafür in einem Autonomiekonflikt, den ich unbewusst austrage. Und | |
zwar jedes Mal, wenn jemand von außen mir einen Termin aufdrängt. Weil ich | |
diese Ansage angeblich als Einschränkung meiner persönlichen Freiheit | |
erfahre. | |
Ich bin mir nicht sicher, ob die Erklärung wirklich trifft. Aber ich kann | |
mich mit ihr arrangieren, kommt sie doch meiner Eitelkeit entgegen: Ich | |
gefalle mir als selbstbestimmte Person, die im Zweifel im Namen ihrer | |
Autonomie zu spät kommt. | |
Noch besser aber gefällt mir, was der Münchner Zeitforscher Karlheinz | |
Geißler sagt: „Pünktlichkeit ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und | |
eine gesellschaftliche Moralvorstellung. Die Uhr ist schuld an | |
Pünktlichkeit beziehungsweise Unpünktlichkeit. Und der kapitalistische | |
Gedanke, Zeit sei immer in Geld umzumünzen.“ Weil Geißler sich diesem | |
Diktat nicht unterwerfen will, lebt er weitestgehend ohne Uhr. Zumindest im | |
Privaten. Er steht auf, wenn er wach wird, geht schlafen, wenn er müde ist. | |
Und wenn er einen Termin macht, dann nur „mit einer sehr großen | |
Elastizität“, wie Geißler sagt. Er plant also genug Vorlauf ein, auch wenn | |
das bedeutet, dass er bei einem Termin oftmals auf sein Gegenüber warten | |
muss. | |
## Wer bestimmt wen? | |
Natürlich ist diese Lebensweise eine Art Luxus, den sich nicht jeder | |
leisten kann; Beruf und Familie funktionieren schlicht nicht ohne Uhr. Auch | |
die Wirtschaft tut es nicht. Doch ist Geißlers Grundgedanke ein richtiger: | |
Wer bestimmt eigentlich wen – die Uhr uns oder wir die Uhr? „Dabei lässt | |
Zeit sich nicht sparen oder totschlagen“, sagt Geißler. Kopp-Wichmann ist | |
derselben Meinung: „Die Zeit ist kein Ding, wir haben uns nur daran | |
gewöhnt, es so zu auszudrücken“, erklärt er. „Sie können zwar | |
beispielsweise mit ihrem Smartphone ihre E-Mails unterwegs checken, aber | |
haben Sie deshalb wirklich weniger Arbeit und Zeit gespart?“ Ich überlege: | |
Nein, habe ich nicht. Ich spare dadurch tatsächlich keine Zeit – denn die | |
Korrespondenzen, die ich führe, sind mehr geworden. | |
Was aber ist die Lösung für mein Problem? Kopp-Wichmann rät, sich selbst | |
bewusst zu machen, welche Gefühle Termine auslösen, zu denen ich gern zu | |
spät komme. Fühle ich mich bedrängt oder in anderer Weise unangenehm | |
berührt, wenn ich einen bestimmten Termin einhalten soll? Oder denke ich | |
etwa, ich sei spießig, wenn ich dies tue? | |
Die Erkenntnisse der Eigenanalyse, so Kopp-Wichmann, könnten mir helfen, | |
von nun an meinen inneren, unbewussten Konflikt besser zu lösen. Es muss | |
aber gar nicht so kompliziert sein. Folgende Tipps können schon helfen: | |
Termine nie zu eng nacheinander planen. Das beugt Stressgedanken vor und | |
gibt einem mehr Raum, pünktlich von einem Termin zum nächsten zu kommen. | |
Sich selbst überlisten und die Uhr fünfzehn Minuten vorstellen. Am | |
Wochenende mindestens einen weitestgehend terminfreien Tag einplanen, zum | |
Luftholen. Und: entspannt bleiben! Denn wenn Pünktlichkeit laut | |
Zeitforscher Karlheinz Geißler nur ein erdachtes Konstrukt ist, kann ich | |
dann überhaupt wirklich zu spät kommen? | |
Am Ende verhält sich die Pünktlichkeit vielleicht einfach wie die Zeit | |
selbst: relativ zur Sichtweise des Betrachters. | |
29 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Esther Göbel | |
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