Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Leben ohne Krankenversicherung: Für Ivan kam der Arzt zu spät
> Wer keine Versicherung hat, ist im Krankheitsfall auf Ehrenamtliche
> angewiesen. Eine Lösung auf Dauer ist das nicht.
Bild: Nicht gesund und keine Versicherung? Dann wird es schwierig.
BERLIN taz | Einen zweiten Ivan soll es nicht geben, darf es nicht geben.
Gerhard Trabert wird wütend, wenn er die Patientenakte des Rumänen
aufschlägt. „Anfangs litt er nur unter Durchblutungsstörungen“, erinnert
sich der Arzt. Doch dann, im März, wurde bei dem 58-Jährigen Lungenkrebs
diagnostiziert. Das zuständige Krankenhaus verweigerte eine Behandlung –
denn trotz 20 Jahren Arbeit in Deutschland war Ivan nicht
krankenversichert.
Traberts Verein „Armut und Gesundheit“ übernahm die Kosten für die
Untersuchung: 2.500 Euro. Die Diagnose: ein großer Tumor, aber operabel.
Trabert wandte sich an die Ethikkommission des Vincenz-Krankenhauses in
Mainz mit der Bitte, den Mann auch ohne Krankenversicherung zu behandeln.
Derweil wurde Ivan durch seine Krankheit arbeitsunfähig, verlor seine
Wohnung, musste in ein Heim ziehen – ein Teufelskreis aus Armut und
Krankheit. Es vergingen sechs Wochen, bis das Krankenhaus der Operation
zustimmte. Da hatte der Krebs längst gestreut. „Es ist viel kostbare Zeit
verloren gegangen“, sagt Trabert rückblickend. Ivan starb im Juli.
Bundesweit gibt es rund 140.000 Menschen, die wie Ivan nicht
krankenversichert sind – obwohl in Deutschland seit dem 1. April 2007 die
Versicherungspflicht in der gesetzlichen und seit Januar 2009 in der
privaten Krankenkasse gilt. Zu den Betroffenen zählen vor allem
EU-Staatsbürger aus osteuropäischen Ländern, Wohnungslose, Haftentlassene,
aber auch Selbstständige, die die hohen Versicherungsbeiträge nicht mehr
aufbringen können.
## Letzte Rettung
Auch Menschen über 55 Jahren, die zuvor privat versichert waren, müssen von
den gesetzlichen Krankenkassen nicht aufgenommen werden. Für sie sind
Ärzte, die kostenlos behandeln, die letzte Rettung. Ehrenamtliche helfen in
vielen Großstädten schnell und anonym.
Gerhard Trabert hat zuerst Soziale Arbeit studiert – und dann Medizin.
Bereits vor 20 Jahren gründete er den Vorläufer seiner heutigen Ambulanz:
das Arztmobil, mit dem er noch heute auf der Straße behandelt. Rund 20
Ärzte arbeiten mit Trabert zusammen, darunter Gynäkologen, Zahnärzte,
Chirurgen, Internisten und Psychologen. Die Ambulanz finanziert sich rein
durch Spenden. Im August steht das Jubiläum der Gründung an. „Doch das ist
kein Grund zum Feiern“, sagt Trabert. Zur dauerhaften Lösung für das
lückenhafte Krankenkassensystem wollen er und seine Mitarbeiter nicht
werden.
„Auch wenn ehrenamtliches Engagement grundsätzlich sehr zu begrüßen ist und
für die Betroffenen eine Hilfe sein kann, kann es langfristig kein
Lösungsmodell für die Versorgung von nichtkrankenversicherten Menschen
sein“, sagt ein Sprecher des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Caritas
begrüßt solche Angebote zwar, weil sie einen niedrigschwelligen Zugang zur
gesundheitlichen Versorgung ermöglichen. Ziel aller Einrichtungen aber ist
es, die Betroffenen langfristig ins Versicherungssystem zu integrieren.
## Risiko Selbstständigkeit
So wie bei Uwe, der 35 Jahre lang selbstständig war. Nach seiner Scheidung
musste er sein Eiscafé schließen. Plötzlich konnte er den monatlichen
Beitrag von 600 Euro bei seiner privaten Krankenversicherung nicht mehr
zahlen. Kurz darauf verlor er den Versichertenstatus. Lange Zeit war ihm
seine Situation peinlich. Erst als die Zahnschmerzen schlimmer wurden,
nutzte er das Angebot von Traberts Ambulanz.
„Es hat mich viel Überwindung gekostet, die Praxis aufzusuchen“, gesteht
der heute 64-Jährige. Seit Kurzem ist Uwe im günstigeren Basistarif einer
privaten Krankenversicherung. Der kostet nur die Hälfte. Damit hat er
wieder Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung. Die Ambulanz hat ihm
bei der Wiedereingliederung geholfen.
„Auch wir müssen mit den Krankenkassen immer individuell über jeden
einzelnen Fall verhandeln“, sagt Andreja Tomic. Die 40-jährige Psychologin,
die als Jugendliche ihr Augenlicht verlor, leitet in München die
medizinische Anlaufstelle open.med. Dort behandeln Ärzte ähnlich wie in der
Mainzer Armenambulanz an zwei Tagen die Woche ehrenamtlich, kostenlos und
anonym. Knapp 2.000 Konsultationen finden im Jahr statt.
## Kein Insulin auf der Straße
Das Wartezimmer von open.med ist an einem Dienstagnachmittag im August gut
gefüllt. Auf den abgenutzten Lederstühlen sitzen Männer mittleren Alters,
eine Rentnerin, die einen dunkelhäutigen Jugendlichen begleitet, und eine
obdachlose Diabetikerin, die auf das Insulin aus dem Kühlschrank der
Ambulanz wartet, das sie auf der Straße nicht besitzt.
Am Empfangstresen haben die Mitarbeiter alle Hände voll zu tun,
Neuaufnahmeanträge in mehreren Sprachen liegen bereit. Ein Mann mit grauen
Haaren, blauem T-Shirt und Badeschlappen kommt durch die Tür. Ein
Streitgespräch entbrennt, Leiterin Tomic diskutiert lautstark auf
Bulgarisch mit dem Patienten. Sie schüttelt den Kopf, haut mit der Faust
auf den Tisch. Der Mann ist mittlerweile krankenversichert – kommt aber
weiterhin lieber in die anonyme Sprechstunde, weil hier gedolmetscht wird.
Die Leiterin bleibt hart: Sie weiß, es gibt viele andere Menschen, denen
akut geholfen werden muss.
Erst gestern meldete sich ein Mann bei ihr, der völlig verzweifelt war.
Sein Arbeitgeber hatte jahrelang die Beiträge für die Krankenkasse nicht
gezahlt – ein Arbeitsunfall auf der Baustelle brachte den Betrug ans Licht.
Das Problem: Wer jetzt in die Krankenkasse eintreten will, muss die
Beiträge der vergangenen sieben Jahre seit Einführung der
Versicherungspflicht nachzahlen. Dazu kommt ein Säumniszuschlag, eine Art
Strafgebühr. Ob Leistungen in dieser Zeit in Anspruch genommen wurden,
spielt keine Rolle.
## Wachsende Schuldenberge
„Vor allem bei ehemaligen Privatversicherten häuft sich dadurch der
Schuldenberg“, sagt Tomic. „Neulich kam eine alleinstehende Frau, die
35.000 Euro Beitragsrückstände zahlen sollte. Wie soll sie für die
versicherungslose Zeit aufkommen?“
Das Dilemma der Nichtkrankenversicherten ist der Bundesregierung durchaus
bekannt. Daher wurde am 1. August 2013 das Beitragsschuldengesetz
verabschiedet, dass Nichtversicherten bis Ende dieses Jahres ermöglichte,
ohne Beitragsschulden wieder in die Krankenkasse einzutreten oder neu
aufgenommen zu werden. „Das Gesetz sollte vor weiterer finanzieller
Überforderung schützen“, so das Bundesministerium für Gesundheit.
Doch nur wenige profitierten von dieser Gesetzesinitiative. „Der Zeitraum
war für alle Beteiligten viel zu kurz“, kritisiert Andreja Tomic von
open.med, „es gab kaum Informationen im Vorfeld, viele Betroffene haben von
dieser Maßnahme überhaupt nie erfahren.“ Nur rund 13.600 der zuvor
Nichtversicherten haben in diesen fünf Monaten den Sprung in die
gesetzliche Krankenkasse geschafft – also knapp jeder Zehnte. Weitere 4.500
wurden von privaten Versicherungen aufgenommen.
Nach Angaben der Techniker Krankenkasse sind den Betroffenen in den
gesetzlichen Kassen rund 63,8 Millionen Euro erlassen worden. Eine
Schuldenermäßigung ist zwar weiterhin möglich, hängt jedoch von der Kulanz
der jeweiligen Krankenversicherung ab. Der Säumniszuschlag auf die
Monatsbeiträge ist von 60 auf 12 Prozent im Jahr gesenkt worden.
## Sensibilisierung gefordert
Sozialmediziner Gerhard Trabert wünscht sich grundlegende Veränderungen
beim Umgang mit Menschen ohne Krankenversicherung. Vor allem die
Krankenhäuser müssten sensibilisiert werden. Oftmals schicken sie die
Betroffenen einfach weg. Trabert fordert daher langfristige Maßnahmen, denn
Regelungen wie das Beitragsschuldengesetz im letzten Jahr können seiner
Meinung nach das strukturelle Problem nicht lösen, dass weiterhin
Zehntausende Menschen in Deutschland kein Versicherungskärtchen besitzen.
Auf kommunaler Ebene wollen Trabert und seine Mitstreiter deshalb
sogenannte Fallkonferenzen etablieren: regelmäßige Treffen, bei denen
Vertreter von Behörden, Verbände, Hilfsorganisationen, Kassen und
Krankenhäuser schnell und unbürokratisch über dringende Fälle beraten.
Trabert will außerdem einen Gesundheitsfonds einrichten, aus dem die
außerplanmäßigen Behandlungen bezahlt werden. Das Konzept soll aus dem im
Frühjahr dieses Jahres in Brüssel beschlossenen Europäischen Hilfsfonds für
die am stärksten von Armut betroffenen Personen (Ehap) finanziert werden.
Der Fonds umfasst 3,5 Milliarden Euro, der Bundesrepublik stehen 80
Millionen davon zu.
Im Mai wurde Gerhard Trabert für sein Engagement mit der
Paracelsus-Medaille der Deutschen Ärzteschaft ausgezeichnet. Doch solche
Solidaritätsbekundungen reichen ihm nicht. „Wir verstecken uns hinter
Gesetzen, Vorschriften und Bestimmungen“, kritisierte er in seiner
Dankesrede. „Wir sollten uns alle empören, wie mit sozial benachteiligten
Menschen in unserer Gesellschaft umgegangen wird.“
Im Herbst will Trabert gemeinsam mit dem Land Rheinland-Pfalz den Antrag
auf EU-Gelder einreichen. Er hofft auf die Unterstützung seiner Kollegen.
Einen zweiten Ivan will er auf jeden Fall verhindern.
24 Aug 2014
## AUTOREN
Laura Diaz
Fabienne Kinzelmann
## TAGS
Krankenversicherung
Ehrenamtliche Arbeit
Medizin
Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg
Krebs
Gesundheit
Krankenkassen
Techniker Krankenkasse
Bürokratie
Gesundheitspolitik
Gesundheitspolitik
Flüchtlinge
## ARTIKEL ZUM THEMA
Arztmobil für Papierlose unter Druck: Die Polizei ist indiskret
Das Arztmobil behandelt ehrenamtlich Geflüchtete und Obdachlose – es sei
denn, die Polizei beobachtet die mobile Praxis. Dann trauen sich Patienten
nicht rein.
Krebskranker über Netzkampagne: „Sprung vom Drei-Meter-Brett“
Claudius Holler, Ex-Pirat und Unternehmer, hat keine Krankenversicherung
und erkrankte an Hodenkrebs. Sein Spendenaufruf ging viral.
Aus für alte Krankenversicherungskarte: Elektronisch mit Ausnahmen
Die alte Krankenversichertenkarte verliert 2015 ihre Gültigkeit. Nicht in
jedem Fall muss dann die neue Gesundheitskarte vorgelegt werden.
Kassen setzen Patienten unter Druck: Hopp, hopp, an die Arbeit!
Etliche Patienten fühlen sich von ihrer Krankenkasse beim Thema Krankengeld
unter Druck gesetzt – durch regelmäßige Anrufe oder sehr intime Fragen.
Krankenkassen im Minus: Zeit der Überschüsse ist vorbei
Im ersten Quartal ist laut „FAZ“ bei den Krankenkassen ein Defizit im
dreistelligen Millionenbereich aufgelaufen. In den Vorjahren waren stets
Überschüsse erzielt worden.
Mehr Menschlichkeit für Schwerkranke: Formulare im Angesicht des Todes
Die Bürokratie, die zermürbend langsam arbeitet, sollte Schwerkranken
erspart bleiben. Ein Plädoyer für eine neue Verwaltungsethik.
Kommentar Krankenkassenbeiträge: Versichertenbestrafung
Wer gesetzlich versichert ist, soll weniger zahlen. Außerdem fällt die
ungerechte Kopfpauschale weg. Klingt gut, für viele wird es aber trotzdem
teurer.
Gesundheitsreform beschlossen: Kassenbeiträge steigen
Die Bundesregierung regelt die Gesundheitsfinanzierung neu: Viele
Versicherte werden erst entlastet – später wird es wohl auf breiter Front
teurer.
Anonyme Sprechstunde für Flüchtlinge: Papierlose Patienten
Der Staat verweigert Menschen ohne Aufenthaltsstatus die
Gesundheits-Versorgung. In Oldenburg fordern Grüne, Linke und Piraten eine
anonyme Sprechstunde.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.