# taz.de -- Gelebte Solidarität mit Flüchtlingen: Ein fürsorgliches Dorf | |
> Im niedersächsischen Barnstedt leben seit November 17 Flüchtlinge mit | |
> ihren Kindern. Die Dorfbewohner versuchen, die Menschen zu unterstützen. | |
Bild: Trinken oft Tee mit den Dorfbewohnern: die Asylbewerber, die in einem ehe… | |
BAD BRAMSTEDT taz | Mit dem Rad fahren Vera Geldmacher und Egbert Bolmerg | |
zu dem ehemaligen Gasthof im Kern von Barnstedt. Dort sind alle | |
Fensterläden und Türen geöffnet. Eine mit einem roten Tuch locker | |
verschleierte Frau tritt aus der Tür des Hauses, sie trägt ein Baby auf dem | |
Arm. Als sie Geldmacher sieht, deutet sie freudig auf ihr Kind. „Schon fünf | |
Kilo.“ Vera Geldmacher nickt und lächelt. Zwei Männer haben Tee aufgesetzt | |
und kramen Gewürze hervor. Die anderen Bewohner rücken im Hinterhof Tische | |
und Stühle in die Sonne. | |
17 Asylbewerber leben mit ihren Kindern im alten Gasthof in dem | |
700-Seelen-Dorf in Niedersachsen. Als die ersten von ihnen im November | |
vorigen Jahres in die Gemeinde geschickt wurden, haben Geldmacher und | |
Bolmerg am alten Gasthof geklingelt. Sie seien sofort hereingewunken | |
worden. „Die wollten gar nicht wissen, warum wir hier sind“, sagt | |
Geldmacher. Die Asylbewerber und die anderen Einwohner des Dorfes erzählen | |
das Gleiche: Sie hätten von der jeweils anderen Kultur bedingungslose | |
Gastfreundschaft erfahren. | |
„Barnstedt hat ein gallisches Gen“, sagt auch Jens Thomsen, der aus Hamburg | |
hierher gezogen ist. Gallisch deshalb, weil die Dorfgemeinschaft sich wie | |
eine große Klammer um seine Einwohner lege. Hier kämen alternative und | |
konservative Leute zusammen, Zugezogene und Einwohner. | |
Die neu Zugezogenen kommen von weit her, aus dem Sudan und aus Somalia. Der | |
ehemalige Gasthof in der Mitte des Dorfes, in dem sie untergebracht sind, | |
aus rotem Backstein und mit Ziegeldach wie die anderen Häuser, liegt an | |
einer großen Allee. Im Hof spielen die Kinder Fußball, während die | |
Erwachsenen in der spätsommerlichen Nachmittagssonne sitzen. „Die Menschen | |
hier sind sehr nett“, sagt ein junger Mann, der aus dem Nordsudan | |
geflüchtet ist. „Aber kein Supermarkt, kein Arzt, keine Schule.“ Er | |
telefoniert mit dem Handy mit seiner Familie im Sudan. „Kein guter | |
Empfang“, sagt er. Für die Erwachsenen bestehe das Leben nur aus Essen und | |
Schlafen, sagt der Mann. Arbeiten dürfen sie nicht. Nicht mal einen | |
Internetzugang haben die Flüchtlinge. | |
Die Asylbewerber sind bei ihrer Versorgung auf die Dorfbewohner angewiesen. | |
Etwa 20 Menschen sind aktiv dabei, unter ihnen sechs regelmäßige | |
Ansprechpartner wie Bolmerg und Geldmacher. „Wir denken, wir machen unsere | |
Sache gut, aber wir wissen es nicht“, sagt die 59-Jährige. | |
Am Anfang gab es überbordende Hilfeleistungen. Ganze Kisten voll Spielzeug | |
und Kleidung stapelten sich im Flur des Gasthofes, in dem die Flüchtlinge | |
untergebracht sind. Mittlerweile geht man nach einem System vor: Die | |
Asylbewerber klingeln mit Amtsbescheinigungen oder Arztbriefen bei den | |
Unterstützern im Dorf. Die Dorfbewohner haben Fahrdienste zum sechs | |
Kilometer entfernten Supermarkt organisiert. Ein Lehrerpaar will den | |
Flüchtlingen jetzt regelmäßigen Deutschunterricht anbieten. Dolmetscher und | |
Fachanwälte für die Gerichtsverhandlungen haben die Bewohner ebenfalls | |
aufgetrieben. Drei Flüchtlingskinder machen mittlerweile bei der | |
Freiwilligen Feuerwehr mit. „Jeder hilft da, wo er kann“, sagt Brandmeister | |
Torsten Dittmer. | |
Die Möhlmanns gehören zu denen, die oft helfen. Am vorigen Abend haben die | |
beiden ihre Silberhochzeit gefeiert, das ganze Dorf war da. Jetzt sitzen | |
sie zwischen Blumen und Glückwunschkarten. Die beiden sind eine Art | |
Notfallanlaufstelle für die Asylbewerber geworden. „Wenn die Leute bei uns | |
klopfen, dann wissen wir, dass die Hilfe dringend nötig ist“, sagt | |
Hans-Heinrich Möhlmann. Oft schauen die beiden unter der Woche auf einen | |
Tee bei den Flüchtlingen vorbei. Als Heike Möhlmann gehört hat, dass sie | |
keine Jacken hatten, hat die Informatikerin die alten Wintersachen aus dem | |
Keller geholt. | |
Bei der Geburt des Babys hat sie das ganze Wochenende mit im Krankenhaus | |
verbracht. Aus der Politik hält sie sich raus. „Wir wollen praktisch helfen | |
und uns nicht mehr frustrieren als nötig“, sagt sie. „Aber dass es | |
politisch nicht gerade glücklich läuft, sieht man überall.“ | |
Elektroingenieur Möhlmann hat in dem Gasthof Glühlampen gewechselt und | |
sogar Leitungen neu verlegt. Das Ehepaar organisiert zweimal die Woche | |
Fahrten zum Arzt. Jeder hilft da, wo er kann. | |
Die Asylbewerber würden trotzdem lieber in die nächstgrößere Stadt, nach | |
Lüneburg, ziehen. Die junge Mutter ist damals hochschwanger aus dem Sudan | |
gekommen. Ihr Baby ist oft krank. Jedes Mal muss sie bei der | |
Nachbarsfamilie klingeln, wenn ein Arztbesuch ansteht. | |
Eine Frau aus Somalia fängt an zu weinen. Sie ist alleinerziehend, wohnt | |
mit sechs Kindern auf dem Dachboden. Mit den übrigen Bewohnern kann sie | |
sich kaum verständigen. Nur einen der Sudanesen versteht sie | |
bruchstückhaft. Sie möchte in die Stadt, um Leute zu finden, die ihre | |
Sprache sprechen, übersetzt er. „Wir brauchen dafür mehr Zeit“, sagt | |
Geldmacher dem Mann. „Sagen Sie ihr, dass sie hier nicht alleine ist.“ Ob | |
die Botschaft bei der Frau ankommt, weiß sie nicht. | |
Am selben Tag sprechen Egbert Bolmerg und Vera Geldmacher in ihrer Küche | |
über die Organisation der Hilfe. Geldmacher stellt Kaffee auf die hellblaue | |
Tischdecke, Kekse sind auf einen farblich passenden Teller gestapelt. | |
Bolmerg hält einen Brief des Landrates hoch. Darin dankt dieser den den | |
Bewohnern für ihre vorbildliche Hilfeleistung. „Dabei waren wir überhaupt | |
nicht vorbereitet“, sagt Bolmerg. Der 58-Jährige ist Pflegedirektor in | |
einer psychatrischen Klinik und sitzt im Gemeinderat der Samtgemeinde | |
Ilmenau, zu der Barnstedt gehört. Die Gemeinden würden etwa eine Woche vor | |
Ankunft der Flüchtlinge telefonisch informiert, sagt er. Die Verwaltung sei | |
komplett überfordert. Momentan sei in der Samtgemeinde eine einzige | |
Sachbearbeiterin für über 50 Asylbewerber verantwortlich. | |
„Irgendwas läuft hier falsch“, sagt Geldmacher. Für jeden Bescheid, jede | |
Befragung müssen die Asylbewerber nach Lüneburg oder gar Braunschweig | |
fahren. Für die Frau mit ihren sechs Kindern macht das nach Lüneburg | |
Fahrtkosten von 42 Euro. Ständig bekommen die Flüchtlinge Bescheide. Das | |
geht von kommentarlosen Mitteilungen im Schulranzen bis zu Beitragsbriefen | |
für die Rundfunkgebühr, von der sie eigentlich befreit sind. Oft klingeln | |
sie bei Geldmacher und Bolmerg, denn jeder Brief mit einem Bundesadler | |
drauf könnte ein Abschiebebescheid sein. „Als das eine Baby geboren war, | |
kam als erstes ein Brief mit der Steueridentifikationsnummer“, erzählt | |
Geldmacher. Der automatische Bürokratismus funktioniere in der Verwaltung | |
offenbar, sagt sie nüchtern. | |
Seit Februar fordern die Barnstedter einen Sozialarbeiter. Im August hat | |
die Gemeinde die Stelle besetzt. Für zehn Stunden in der Woche. Für die | |
ganze Samtgemeinde mit über 50 Flüchtlingen. Rechnerisch macht das etwa | |
zwölf Minuten pro Flüchtling . | |
Bisher haben die Bewohner von Barnstedt alles selbst bezahlt. Jetzt planen | |
sie für den 7. September eine Musikmeile, um Geld für Dolmetscher- und | |
Anwaltskosten aufzutreiben. „Im Moment ist das eine trügerische Ruhe“, sagt | |
Jens Thomsen, „aber es wird einen Schub an anwaltlicher Bedarfslage | |
kommen.“ Fünf Bühnen soll es geben. Da soll der Jagdhornbläsertrupp | |
spielen, junge Hip-Hopper, Punk-Bands und Chöre sollen singen. | |
Und die 86-Jährige Helga Grote stellt ihren Gasthof zur Verfügung. In ihrem | |
Saal mit Weißbierwerbung an der Wand fand schon das Willkommensessen mit | |
sudanesischer und deutscher Küche statt. Seit über 60 Jahren betreibt Grote | |
den Gasthof. „Ich will eins klarstellen. Wir sind offen für alles und | |
können spontan handeln“, sagt sie energisch. Danach freundlich: „Ich bin | |
Helga.“ Sie erzählt, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg drei | |
Flüchtlingsfamilien in ihrem Haus untergebracht hat. Noch nie sei in | |
Barnstedt einer durch das soziale Netz gefallen, sagt Grote. Sie wünscht | |
sich, dass die Menschen auch diesmal im Ort bleiben und sich wohlfühlen. | |
„Aber wie soll das gehen, wenn sie sich keine Zukunft aufbauen dürfen?“ | |
31 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Nora Kolhoff | |
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