| # taz.de -- Hilfe für Vergewaltigungsopfer: Die Verzweiflung aushalten | |
| > Die Soziologin Sibylle Ruschmeier arbeitet seit 17 Jahren beim Hamburger | |
| > Frauennotruf. Ein Job, der emotional oft sehr belastend ist. | |
| Bild: Jeden Tag ruft mindestens eine Frau beim Hamburger Frauennotruf an: Viel … | |
| HAMBURG taz | Vieles kann Sibylle Ruschmeier verdrängen; bei den Worten | |
| jenes Richters will ihr das nicht gelingen. Im Frühjahr 2009 begleitet sie | |
| eine Frau in ein Hamburger Amtsgericht. Ruschmeier hatte probiert, ihr Mut | |
| zu machen, versucht, ihr die Angst zu nehmen. Drei Männer sollen Anna | |
| Schmidt, die Anfang 20 ist und in Wirklichkeit anders heißt, vergewaltigt | |
| haben; sie sitzen ebenfalls im Saal. Der Richter glaubt nicht, dass es sich | |
| um eine Vergewaltigung gehandelt hat. „Eine Frau, die nachts auf dem Kiez | |
| feiern geht, Alkohol trinkt„ geifert er, „darf sich nicht wundern, wenn man | |
| den Respekt vor ihr verliert.“ So geschieht es, dass eine vergewaltigte | |
| Frau erneut gedemütigt wird. Oft doziert der Richter, was er sich | |
| vorstellen könne und was nicht. Dass Anna unfreiwillig in ein Taxi steigt? | |
| Das kann er nicht glauben. Dass sie mit drei Männern schläft und wegen | |
| ihres Freundes behauptet, vergewaltigt worden zu sein? Das kann er glauben. | |
| Und spricht die Männer frei. | |
| Alltag in deutschen Gerichtssälen. Laut einer Studie des Kriminologischen | |
| Forschungsinstituts Niedersachsen führen knapp 8,4 Prozent der jährlich | |
| etwa 8.000 Vergewaltigungsanklagen zu einer Verurteilung. Sibylle | |
| Ruschmeier sitzt nach diesen Freisprüchen vor den Frauen, versucht einen | |
| Umstand zu erklären, den sie kaum erklären kann. Anna ist nach dem Urteil | |
| untergetaucht. | |
| Sibylle Ruschmeier hält inne, nachdem sie von dem Fall erzählt hat. Die | |
| 47-Jährige mit den kurzen, kupferfarben gesträhnten Haaren sitzt in der | |
| Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen in Hamburg. Seit 17 Jahren | |
| arbeitet sie hier, ist Single, hat keine Kinder. Während des Gesprächs | |
| scheppert oft die Türklingel. Auf dem Tisch liegt ein Artikel der | |
| Süddeutschen Zeitung: „Der Feind im Freund.“ Ruschmeier hält eine Tasse | |
| Pfefferminztee oder einen Kugelschreiber in der Hand. Manchmal schiebt sie | |
| einen Ring am Finger hoch und runter. Sie braucht nur wenige Fragen, um | |
| viel zu erzählen. | |
| Wenn sich Reporter an den Frauennotruf wenden, fragen sie meist nach | |
| „Opfern“. Um die Frauen, die sich für diese einsetzen, geht es selten. | |
| Vergewaltigungsopfer haben oft Ängste, Schuldgefühle, eine gestörte | |
| Sexualität. Viele denken an Selbstmord und drohen, in einem Strudel der | |
| Qual zu ertrinken. Wie gelingt es Beraterinnen wie Sibylle Ruschmeier, die | |
| Frauen da herauszuziehen, ohne selbst hineinzustürzen? | |
| Ein Schild mit einem Venussymbol weist den Weg zur Beratungsstelle. | |
| Beethovenstraße 60, erster Stock. Überall stehen Sessel, in einer hölzernen | |
| Schale liegen Chai-Tees. In der Küche sitzen Ruschmeiers Kolleginnen, | |
| trinken Kaffee – zwei sind Psychologinnen, zwei Sozialpädagoginnen und eine | |
| Soziologin. Eine Kollegin hat heute Geburtstag. In Ruschmeiers Büro liegt | |
| Konfetti. Hier führt sie die Gespräche. An der Wand hängt ein Plakat, auf | |
| dem steht: „Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Zu jeder Zeit, an jedem | |
| Ort“, daneben die Unterschriften prominenter Männer. Es sei schwer gewesen, | |
| sie zu einer Unterschrift zu bewegen, erzählt Ruschmeier. | |
| Zum ersten Mal erfährt sie, wie schwierig es ist, das Thema sexualisierte | |
| Gewalt zu vermitteln, als sie Anfang der 90er an ihrer Diplomarbeit | |
| tüftelt. Sie studiert Soziologie. Ruschmeier möchte über sexuelle Gewalt | |
| gegen Kinder schreiben. Niemand will ihre Arbeit betreuen. Irgendwann | |
| erklärt sich ein Professor bereit und ist anfangs begeistert. Als | |
| Ruschmeier beginnt, in ihrer Arbeit zwei seiner Freundinnen zu kritisieren, | |
| darunter eine Gerichtsreporterin des Spiegel, wird das Verhältnis | |
| schwieriger. Nach der Abgabe der Diplomarbeit grüßt er Ruschmeier nicht | |
| einmal auf dem Gang. | |
| Zum Frauennotruf kommt sie zufällig. Eine Freundin arbeitet dort und fragt, | |
| ob Ruschmeier mitkommen und helfen möchte. Schnell merkt sie, dass sie | |
| bleiben will. Bereits damals schrillt das Telefon beim Notruf fast | |
| ununterbrochen. Als sich die Institution vor 35 Jahren in Hamburg gründete, | |
| führten die Frauen ehrenamtlich Gespräche in Cafés. Doch die Belastung war | |
| zu groß, viele gaben auf, die Fluktuation war hoch. 1987 wurde aus dem | |
| Notruf ein Verein. Sie erhielten von der Stadt einen Raum. Heute gibt es | |
| rund 750 Fachberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland und den | |
| Bundesverband Frauen gegen Gewalt (BFF). Jeden Tag ruft mindestens eine | |
| Frau beim Hamburger Notruf an. 2012 haben sich 378 an die Beratungsstelle | |
| gewandt. Das sei viel, murmelt Ruschmeier. „Eigentlich zu viel.“ | |
| Die meisten Frauen melden sich Monate, Jahre nach der Tat erst – wenn | |
| überhaupt. Irgendwann bekommen sie Angst, verlieren sich im Karussell der | |
| Gedanken. Das erste Gespräch sei schwierig, erklärt Ruschmeier. Wo wohnt | |
| sie? Wie lange ist die Tat her? Kann sie zur Schule oder zur Arbeit gehen? | |
| Viele wüssten nicht, dass eine Anzeige nicht zurückgenommen werden kann, | |
| dass es bis zu eineinhalb Jahren bis zur Verhandlung dauert. | |
| Sibylle Ruschmeier und ihre Kolleginnen können helfen, weil es dem | |
| Hamburger Notruf finanziell passabel geht. Die Mitarbeiterinnen müssen | |
| derzeit zusätzlich zum Geld der Behörde etwa 8.000 Euro über Spenden und | |
| Bußgelder eintreiben. Früher war es viermal so viel. Dass ein Frauennotruf | |
| finanziell abgesichert ist, ist jedoch die Ausnahme. Überall fehlen | |
| Personal und Geld. Dabei heißt es in einem Lagebericht der Bundesregierung: | |
| „Wer mit dem Rücken zur Wand steht, kann anderen nicht den Rücken stärken.… | |
| In Hamburg arbeiten fünf Frauen auf 4,1 Stellen. „Wir vergessen manchmal, | |
| dass wir immerzu unter Druck sind“, sagt Ruschmeier. Dennoch begleiten sie | |
| Frauen ins Gericht. „Ich bekomme dann mehr Details mit. Dadurch bekommt das | |
| eine andere Dimension.“ | |
| An einem dieser Tage sitzt Ruschmeier neben der Zeugin in der Mitte des | |
| Gerichtssaals, darf ihr als Vertrauensperson beistehen. Rechts sitzt der | |
| Angeklagte, vorne der Richter, links der Staatsanwalt. Gerade wirft der | |
| Verteidiger der Zeugin donnernd vor, den Sex gewollt zu haben. Die Frau | |
| dreht sich zu Ruschmeier, ihr Blick fragt: Wie soll ich reagieren? | |
| Ruschmeier nickt ihr zu. Der Verteidiger bemerkt das, und attackiert | |
| plötzlich die Soziologin. Sie solle das unterlassen, das manipuliere die | |
| Zeugin, keift er. Sonst werde er sie aus dem Saal entfernen lassen. | |
| Die Atmosphäre im Gericht sei unnahbar, erzählt Ruschmeier, zurück im | |
| Frauennotruf, wo Kekse auf dem Tisch liegen und der Raum nach | |
| Pfefferminztee duftet. Meist kommt es zu persönlichen Fragen. Wie oft die | |
| Zeugin Sex mit Männern habe? Ob sie Analsex möge? Oft höre Ruschmeier nach | |
| Gerichtsprozessen von Frauen: „Ich würde nie wieder anzeigen.“ Das belastet | |
| auch Ruschmeier. Alle zwei Wochen kommt eine Therapeutin zwei Stunden lang | |
| in den Frauennotruf. „Man kann sich ärgern, pöbeln, auf den Tisch hauen.“ | |
| Wenn Ruschmeier Luft rauslassen muss, spielt sie Saxophon. Seit zwölf | |
| Jahren. Gegen die Verzweiflung helfe ihr zudem, denen eine Stimme zu geben, | |
| die sonst stumm blieben – obgleich das mit Hürden verbunden ist. | |
| Ein Sonnabend im August, drei Jahre zuvor. Durch die Hamburger Innenstadt | |
| laufen Hunderte Demonstranten. Sie tragen Mini-Röcke, Netzstrumpfhosen und | |
| halten Schilder hoch, auf denen prangt: „Nein heißt Nein!“. Sibylle | |
| Ruschmeier ist hier, um eine Rede zu halten. Es handelt sich um den | |
| „Slutwalk“, eine weltweite Demonstration, ausgelöst durch die Aussage eines | |
| Polizisten in Toronto, Frauen sollten sich „nicht wie Schlampen anziehen, | |
| um nicht zu Opfern zu werden“. Ruschmeier sagt in ihrer Rede, dass es nicht | |
| die Kleidung sei, die eine Frau vor sexueller Gewalt schützen könne, sagt, | |
| das sei ein Scheinargument. „Es würde zu viel Angst machen, die Gewalt | |
| nicht eingrenzen und keine Erklärung dafür finden zu können, warum eine | |
| Frau Opfer dieser Gewalt geworden ist.“ | |
| De facto sind die Täter selten Fremde, die im Gebüsch lauern. Eine Studie | |
| des Bundesfamilienministeriums zur Gewalt gegen Frauen hat 2004 ergeben, | |
| dass rund 49 Prozent der Täter der (Ex-)Partner oder Geliebte, nur 15 | |
| Prozent Fremde sind. Eine Vergewaltigung „ist ein Verbrechen mit zwei | |
| Gesichtern“, schreibt der US-amerikanische Psychologe David Finkelhor. Auf | |
| der einen Seite stehe die Tat, auf der anderen Seite die Vorstellung, die | |
| Menschen über eine Vergewaltigung haben. Goethe hat es in seinem | |
| „Heideröslein“ so beschrieben: „Und der wilde Knabe brach‘/s Röslein … | |
| der Heiden;/Röslein wehrte sich und stach/Half ihm doch kein Weh und | |
| Ach/Musst es eben leiden.“ | |
| Seit 35 Jahren versuchen Frauennotrufe in Deutschland, dieses Leid zu | |
| lindern. Doch die Situation habe sich kaum gebessert, findet Ruschmeier. Es | |
| sei traurig zu erleben, was Menschen einander antun. „In meiner Fantasie | |
| gibt es Grenzen, in der Realität nicht.“ Erneut schiebt Ruschmeier einen | |
| Ring an ihrem Finger hoch und runter. Wenn sie durch die Stadt fährt, | |
| fallen ihr an Orten Vergewaltigungsfälle ein. Wieder klingelt es an der | |
| Tür. | |
| Sie fragt sich manchmal, wie sie wäre, wenn sie hier nicht arbeiten würde. | |
| Weniger misstrauisch bestimmt, denkt sie. Bleibt sie bis zur Rente beim | |
| Notruf? Ruschmeier beginnt ihre Antwort mit „Also“, zieht das Wort wie | |
| Gummi, erwidert, die Frage müsse lauten: Hält sie das durch? Eine andere | |
| Arbeit könne sie sich nicht vorstellen. Schließlich gebe es auch erfüllende | |
| Momente. | |
| Drei Jahre, nachdem der Kontakt zu Anna Schmidt abgebrochen ist, die von | |
| drei Männern vergewaltigt wurde, erhält Sibylle Ruschmeier einen Brief. | |
| Darin findet sie das Foto eines Babys, darunter, mit Hand geschrieben, Name | |
| und Geburtsdatum. „Ich möchte Dir meine Tochter vorstellen.“ Das Kind ist | |
| von ihrem Freund. Ein schönes Gefühl sei das gewesen, sagt Ruschmeier. | |
| Normal sei es nicht, dass sich Frauen wieder melden. Gerade bei denjenigen, | |
| die im Gerichtsaal versucht haben, Gerechtigkeit zu erwirken. | |
| 10 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Amadeus Ulrich | |
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