| # taz.de -- Tote nach Sterilisierungen in Indien: Für acht Euro und einen neue… | |
| > In Indien wurden in zwei Jahren über vier Millionen Frauen sterilisiert. | |
| > An den Folgen dieser Geburtenkontrolle sterben viele. | |
| Bild: Essen am Bett einer gerade operierten Frau in Bilaspur. | |
| DELHI taz | An dem Tag, an dem sich Puja sterilisieren ließ, stand sie | |
| abends schon wieder am Herd und kochte das Abendessen. Die 29-jährige | |
| Inderin möchte ihren Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen. Zu heikel | |
| ist ihr das Thema, über das sie sprechen möchte: ihre Sterilisierung. | |
| Als sie vor fünf Jahren ihren Sohn zur Welt brachte, war dies der schönste | |
| Tag in ihrem Leben, erzählt sie. Sie hatte bereits zwei Töchter. Aber der | |
| männliche Stammhalter machte das Familienglück vollkommen. „Durch meinen | |
| Sohn war unsere Familie endlich komplett“, sagt sie. | |
| Das sah auch die Gesundheitshelferin in Pujas Heimatdorf im indischen | |
| Bundesstaat Madhya Pradesh so. Urmila, die auch lieber beim Vornamen | |
| bleibt, empfahl Puja, sich sterilisieren zu lassen. „Sie sagte, es sei ein | |
| harmloser Eingriff, nichts könne passieren“, sagt Puja. „Ich sollte morgens | |
| zum Arzt gehen, ein paar Stunden später könnte ich schon wieder nach | |
| Hause.“ So war es dann auch. | |
| Zudem bekam sie 600 Rupien, also etwa 8 Euro, und einen neuen Sari. Beides | |
| hatte ihr Urmila schon im Vorfeld versprochen, um einen Anreiz für den | |
| Eingriff zu schaffen. Die 600 Rupien entsprechen etwa 7,5 Prozent des | |
| monatlichen Familieneinkommens. | |
| ## Prämie für Beratung | |
| Wie Puja ergeht es vielen Frauen in Indien: Nach dem zweiten Kind, | |
| spätestens aber, wenn sie einen Jungen zur Welt gebracht haben, werben | |
| sogenannte Gesundheitshelferinnen für eine Sterilisation. „Davor wäre es | |
| zwecklos, alle wollen einen Sohn“, sagt Urmila. Die 34-jährige Inderin | |
| arbeitet seit knapp einem Jahr als freiwillige Gesundheitshelferin, sie ist | |
| Teil des NRHM-Programms der indischen Regierung (National Rural Health | |
| Mission). | |
| „Aber wir machen viel mehr“, sagt Urmila. „Wir helfen den Frauen während | |
| ihrer Schwangerschaft, bringen sie zum Arzt, klären sie über Probleme und | |
| Gefahren auf.“ Alles freiwillig. Kommt es irgendwann jedoch zur | |
| Sterilisation, erhalten die Gesundheitshelferinnen eine kleine Prämie. | |
| Urmila will keinen Betrag nennen, doch eine andere Frau spricht von 250 | |
| Rupien, etwas mehr als 3 Euro. | |
| Puja wusste damals nichts von einer solchen Prämie. Sie dachte über die | |
| angebotenen 600 Rupien und den neuen Sari nach. Denn Puja lebt in ärmlichen | |
| Verhältnissen. Sie muss drei Kinder, die Schwiegereltern und ihren Mann | |
| versorgen. Der arbeitet als Fahrer. Ein festes Einkommen hat er nicht, die | |
| Anzahl der täglichen Fahrten bestimmt seinen Verdienst. Deswegen musste | |
| Puja damals nicht lange überlegen: Sie stimmte dem Eingriff zu, alles | |
| verlief ohne Komplikationen. | |
| ## Tausende Todesfälle | |
| Doch nicht immer läuft alles so glatt wie bei Puja. Indiens früherer | |
| Gesundheitsminister Harsh Vardhan erklärte im Juli, dass die Regierung | |
| allein in der Zeit von April 2010 bis März 2013 insgesamt 510 Millionen | |
| Rupie (fast 6,6 Millionen Euro) Entschädigung für 15.264 Sterilisationen | |
| mit Todesfolge gezahlt habe. | |
| Erst vergangene Woche kam es im Bundesstaat Chhattisgarh zu einer weiteren | |
| Tragödie: 83 Frauen wollten sich in einem Krankenhaus sterilisieren lassen, | |
| 15 Patientinnen sind inzwischen tot, 64 weitere befinden sich noch immer in | |
| ärztlicher Behandlung, etliche sind in einem kritischen Zustand. Sämtliche | |
| Eingriffe wurden an jenem Tag von nur einem einzigen Arzt vorgenommen, | |
| Doktor R. K. Gupta. Innerhalb von fünf Stunden hatte er allen 83 Frauen | |
| ihre Eileiter durchtrennt, pro Eingriff benötigte er durchschnittlich knapp | |
| drei Minuten. | |
| Eigentlich untersagen es die staatlichen Vorschriften einem Arzt, mehr als | |
| 30 Sterilisationen pro Tag vorzunehmen. Doch Gupta entschied sich anders. | |
| „Wenn derart viele Frauen zu einer Behandlung vorgelassen werden, ist es | |
| meine moralische Verantwortung, alle Frauen auch zu behandeln.“ Gupta ist | |
| ein erfahrener Arzt, mehr als 50.000 Frauen hat der Mediziner in seiner | |
| Laufbahn bereits sterilisiert. Im Januar erhielt er von der lokalen | |
| Regierung in Chhattisgarh sogar eine Auszeichnung. Normalerweise benötige | |
| er für einen Eingriff lediglich zwei bis fünf Minuten, erzählte Gupta einst | |
| stolz. Mit einem einzigen Skalpell könne er bis zu zehn Operationen | |
| durchführen. Von Komplikationen keine Rede. | |
| Doch diesmal mussten sich die Frauen nach den Operationen mehrfach | |
| übergeben, sie hatten Schmerzen im Magenbereich und hohes Fieber. Seither | |
| befindet sich Gupta in Polizeigewahrsam, er ist sich keiner Schuld bewusst. | |
| „Ich habe nichts falsch gemacht“, sagt er. „Ich werde zum Sündenbock | |
| gemacht.“ | |
| ## Katastrophale Hygiene | |
| Die Leiterin der Reproductive Rights Initiative in Delhi, Kerry McBroom, | |
| macht das wütend. „Das Schlimmste an den Meldungen aus Chhattisgarh ist, | |
| dass es sich hierbei um keinen Einzelfall handelt“, sagt sie. „Es ist | |
| leider in Indien die Regel, dass Frauen Eingriffe unter solch schlechten | |
| Bedingungen ertragen müssen.“ Seit Jahren kämpft ihre Initiative für | |
| Frauenrechte in Indien. McBroom berichtet von Operationen im Minutentakt, | |
| katastrophalen hygienischen Verhältnissen und verunreinigten Medikamenten. | |
| Auch in Chhattisgarh scheinen verunreinigte Medikamente der Grund für die | |
| Todesfälle zu sein. In den verwendeten Antibiotika und Schmerzmitteln wurde | |
| Zinkphosphid gefunden – ein Stoff, der normalerweise als Rattengift | |
| eingesetzt wird. Der Besitzer der Arzneimittelfabrik und sein Sohn wurden | |
| umgehend festgenommen, denn schon 2012 war ihre Fabrik in die Schlagzeilen | |
| geraten, als minderwertige Substanzen in Medikamenten nachgewiesen wurden. | |
| Drei Monate lang musste die Firma ihre Produktion einstellen, seine Lizenz | |
| durfte das Unternehmen jedoch behalten. | |
| Trotz der teilweise katastrophalen Zustände und der zahlreichen Todesfälle | |
| werden laut einem UN Bericht von 2011 in keinem anderen Land der Welt so | |
| viele Frauen sterilisiert wie in Indien. Nach Angaben der indischen | |
| Regierung wurden 2013 und 2014 über 4 Millionen Menschen sterilisiert. | |
| Hinter den Zahlen steckt ein staatlich gefördertes Programm der | |
| Geburtenkontrolle, das in der Zeit von 1975 bis 1977 einen traurigen | |
| Höhepunkt hatte. Damals galt in Indien der „nationale Notstand“. Die | |
| damalige Premierministerin Indira Gandhi nutzte den Ausnahmezustand, um ein | |
| repressives Familienplanungsprogramm durchzusetzen, mit dem Ziel, das | |
| rasante Bevölkerungswachstum einzudämmen. | |
| Bis zu 8 Millionen Inder, damals hauptsächlich Männer, sollen in jener Zeit | |
| sterilisiert worden sein, viele wurden dazu gezwungen. Erst nach Gandhis | |
| Wahlniederlage 1977 hatte der Zwang ein Ende, die Zahl der Sterilisierungen | |
| sank in den Jahren 1977 und 1978 auf 188.000. Vor zwanzig Jahren strich die | |
| damalige indische Regierung zudem sämtliche nationalen Zielvorgaben, | |
| seither gilt das Programm als rein freiwillig. | |
| Die indische Bevölkerung wächst weiter rasant: Aktuell leben rund 1,2 | |
| Milliarden Menschen in Indien. Schätzungen zufolge wird Indien im Jahr 2030 | |
| China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablösen. Anders als in China | |
| gibt es keine Gesetze, die Familien vorschreiben, wie viele Kinder sie | |
| bekommen dürfen. Vielmehr versucht man, durch kostenlose Angebote Paare zur | |
| Empfängnisverhütung zu bewegen. Gesundheitsminister Jagat Prakash Nadda | |
| nennt es „ein zielmarkenfreies, freiwilliges sowie an die Nachfrage | |
| gekoppeltes Programm“. | |
| Menschenrechtsorganisationen beklagen jedoch, dass Frauen noch immer zu | |
| Sterilisierungen genötigt werden, da einzelne Bundesstaaten den örtlichen | |
| Behörden und Ärzten inoffiziell Quoten vorgeben würden, die diese | |
| einzuhalten hätten. Viele Regionalregierungen locken zudem mit materiellen | |
| Anreizen: Puja erhielt damals 600 Rupie und einen Sari. Andere berichten | |
| von Beträgen zwischen 400 Rupien und 1400 Rupien. | |
| ## Ein Kleinwagen als Belohnung | |
| Die Regierung des Bundesstaates Rajasthan bot vor drei Jahren als Belohnung | |
| Fernseher, Küchenmaschinen und Motorräder an. Wer sich in einem gewissen | |
| Zeitraum sterilisieren ließ, konnte an einer Verlosung teilnehmen. | |
| Hauptgewinn war ein Kleinwagen. „Wir zwingen oder missbrauchen niemanden, | |
| wir versuchen nur, zur freiwilligen Teilnahme zu ermutigen“, äußerte sich | |
| damals ein Arzt aus Rajasthan. | |
| Die Hauptlast der indischen Bevölkerungspolitik tragen die Frauen. Die | |
| Sterilisierung ist noch immer das häufigste Verhütungsmittel – obwohl eine | |
| Vasektomie bei Männern weitaus unkomplizierter ist und zudem wieder | |
| rückgängig gemacht werden kann. Laut indischem Familiengesundheitsbericht | |
| von 2006 wurden 37 Prozent der verheirateten Frauen sterilisiert, die | |
| Vasektomie-Quote bei Männern liegt hingegen bei 1 Prozent. „Das zeigt, wie | |
| sehr Frauen in Indien unterdrückt werden, dass sie nicht einmal ihre Rechte | |
| im Bereich Fortpflanzung wahrnehmen können“, sagt Kerry McBroom. „Frauen | |
| sind hier leichte Beute, sei es für die Regierung oder auch für den | |
| Ehemann, der sie auffordert, einen solchen Eingriff vornehmen zu lassen.“ | |
| Viele Männer glauben, ihnen wird mit einer Vasektomie die Manneskraft | |
| genommen. Pujas Ehemann sagte ihr damals, dass er es sei, der das Geld für | |
| die Familie verdiene. Würde ihm die Kraft genommen oder gar etwas | |
| passieren, wäre doch die gesamte Familie verloren. | |
| 25 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Radunski | |
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